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Turbo G8 – „Allgemeinbildungsanspruch und eine humane Bildung wurden nahezu völlig aufgegeben“: Bildungswissenschaftler Professor Hans Peter Klein

13 Mai

G9PlakatAn diesem Wochenende hat sich in Presse und sozialen Netzwerken in Hamburg die Debatte um die acht- oder neunjährige Schulzeit an den Gymnasien, G8 – G9, heftig zugespitzt. Auslöser ist eine Einladung zu einem Treffen der Hamburger G9 Befürworter durch die Elterninitiative „G9-Jetzt-HH“, die eine Wiedereinführung des G9 an Hamburgs Gymnasien mit Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 fordert. Die Eltern hatten in einer Petition in drei Monaten über 6000 Unterschriften für die Rückkehr zum G9 an Hamburgs Gymnasien erhalten, doch Schulsenator Ties Rabe hält weiter an Turbo G8 fest.  Die Elterninititive kündigte deshalb an, das Treffen der G9 Befürworter könnte der Startschuss zu einer Volksinitiative für die Wiedereinführung des G9 an Gymnasien werden. 

Wie schon einmal während des Volksentscheids gegen die Primarschule ist die schulpolitische Diskussion um G8 oder G9 in Hamburg festgefahren zwischen den Eltern auf der einen und allen etablierten Parteien von Senat und Bürgerschaft auf der anderen Seite. Wie der SPD Schulsenator wollen auch CDU, FDP, Grüne und Linke am Turbo G8 festhalten. Sie erklären, man könne ja die zweite Schulform in Hamburg, die Stadtteilschule wählen, an der es das G9 gebe. Schulsenator Rabe selber hatte dagegen noch in Jahr 2009 die von CDU/FDP eingeführte Schulzeitverkürzung heftig kritisiert: „Der Senat hat mit fliegenden Fahnen und gegen alle Argumente die Schulzeitverkürzung durchgepeitscht“, hatte er damals als Oppositionspolitiker erklärt. http://www.tiesrabe.de/89.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=217&tx_ttnews%5BbackPid%5D=90&cHash=a7148fe2a0

Kirschsblog hat deshalb nachgefragt. Was sagen Bildungswissenschaftler? Was beurteilen sie das Für und Wider von G8 und G9? Kirschsblogs Interview mit Professor Dr. Hans Peter Klein von der Goethe Universität Frankfurt:

KleinTCNJ2011Professor Dr. Hans Peter Klein unterrichtete mehr als 20 Jahre als Gymnasiallehrer und Lehrbeauftragter in der Lehrerausbildung an den Universitäten Köln und Koblenz, bevor er 2001 von der Goethe-Universität Frankfurt auf den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften berufen wurde. Professor Klein ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften (www.didaktik-biowissenschaften.de), Vorstandsmitglied der Bildungskommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, sowie Mitbegründer und Geschäftsführer der 2010 in Köln gegründeten Gesellschaft für Bildung und Wissen (www.bildung-wissen.eu). 2011/2012 war er als Gastprofessor am College of New Jersey (TCNJ) in den USA tätig. Professor Klein war am 16. April 2013 in der Experten-Anhörung zum Thema individualisierter und kompetenzorientierter Unterrricht als Sachverständiger im Schulausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft geladen.

Kirschblog: Herr Professor Klein, sind Sie für das G8 oder für das G9 an Gymnasien?

Prof. Klein: Diese Frage ist relativ einfach zu beantworten: für G9.

Kirschblog: Welche Gründe sprechen denn gegen G8?

Prof. Klein: Die Begründungen, die zu G8 geführt haben, kamen in erster Linie aus einem neoliberalen Anspruch auf Bildung, der unsere Kinder als nachwachsenden Rohstoff für den Kapital- und Arbeitsmarkt betrachtet und in der es darauf ankommt, dieses Humankapital möglichst effizient im Rahmen der Globalisierung und einer weltweiten Employability aufzustellen. Diese Forderungen werden ja unter anderem über die OECD und die weltweit agierende Bertelsmann Stiftung  vertreten. Die Finanzminister haben dann auch schnell einen Haken hinter G8 gemacht, da es Einsparpotentiale insbesondere im Bereich der Lehrerversorgung bot. Auch der Vorwurf, dass deutsche Schul- und Universitätsabsolventen deutlich älter sind als die vor allem aus den anglo-amerikanischen Ländern, ist natürlich abwegig, da es erstens ja wohl auf die Qualität des Abschlusses ankommt – und da war gerade der deutsche Absolvent sowohl des neunjährigen Abiturs als auch des 10 und mehr Semester dauernden Diploms gern gesehener Gast, Universitäts- oder auch Berufseinsteiger in diesen Ländern. Hinzu kommt, dass die USA flächendeckend einen 8-semestrigen Bachelor vergibt, der ja mit dem deutschen und teilweise europäischem 6-semestrigen Schmalspur-Bachelor nicht zu vergleichen ist.

Kirschblog: Sie glauben also, dass die Bildungsökonomie sich hier durchgesetzt hat?

Prof. Klein: Klar! „Möglichst schnell und kostengünstig durch das Bildungssystem“ scheint die leider immer noch andauernde Parole der Protagonisten dieser Entwicklung zu sein, das betrifft ja die Bacherlor-Studiengänge gleichermaßen.

Kirschblog: Hat es denn noch andere Gründe für die Einführung von G8 gegeben?

Prof. Klein: Eines der Argumente war, dass die Kinder ein Jahr ihrer Lebenszeit gestohlen bekämen, dies hatte seinerzeit der damalige Bundespräsident Roman Herzog so formuliert. Dies scheint sich seit der Einführung von G8 ins Gegenteil verwandelt zu haben: Schulkindern wird ihre Kindheit und Jugend gestohlen, da selbst die Kleinsten in immer kürzerer Zeit mit einer bisher nie gekannten Anzahl von Wochenarbeitsstunden oftmals bis in den späten Nachmittag in der Schule ihren Fächern nachgehen müssen. Die für eine positive Bildung der Gesamtpersönlichkeit dringend notwendigen sportlichen, künstlerischen und musischen Aktivitäten sind praktisch kaum noch zu realisieren. Das darüber hinaus für eine mündige und kreative Persönlichkeitsentwicklung ebenfalls wichtige „Chillen“, wie es so schön in der Jugendsprache heute heißt, hat man den Kindern weitgehend weggenommen. Sie sind in ihren Aktivitäten durchgeplant wie junge Roboter und werden leider nicht nur so durch ihre schönsten Jahre geschleust, sondern kommen danach auch an den Hochschulen in ein völlig durchstrukturiertes Bachelor/Master System hinein, dass Ihnen jede Eigeninitiative und Kritikfähigkeit geradezu nimmt. Anscheinend geht es nur noch darum, angepasste Kräfte möglichst kostengünstig für den globalen Arbeitsmarkt zu generieren. Parallel zu dieser Entwicklung wurde ein ehemals besonders im bisherigen deutschen Bildungssystem entwickelter Allgemeinbildungsanspruch und eine humane Bildung nahezu völlig aufgegeben, von Standardisierung, Effizienz und von Kompetenzen ist die Rede, eine Entwicklung, die ich eher als Weg in die Unbildung bezeichnen würde. Entsprechend wird mein neues Buch, was ich derzeit schreibe, auch den Titel oder Untertitel haben „Praxis der Unbildung“, denn genau dort sind wir mittlerweile angelangt. Bildung braucht Zeit und die Wähler werden es den Politkern danken, wenn diese ehrlich genug sind, hier eine vielleicht sogar einmal gut gemeinte Fehlentwicklung zu korrigieren.

Kirschblog: Was ist denn überhaupt Bildung?

Prof. Klein: Dies ist keine leichte Frage, denn eine einheitliche Definition von Bildung gibt es nicht. Gehen wir mal auf den Bildungsbegriff von Wilhelm von Humboldt zurück, der derzeit in der ganzen Welt eine nie gekannte Beachtung findet – außer in Deutschland –  so versteht man darunter im weitesten Sinne die Entwicklung einer ganzheitlichen Persönlichkeit basierend auf einer möglichst breiten Allgemeinbildung, in der Selbstbestimmung, Mündigkeit und Vernunftgebrauch die zentralen Elemente darstellen. Eberhard von Kuenheim, Vorsitzender der gleichnamigen Stiftung und jahrelanger Vorstandsvorsitzender von BMW, hat in einem leider viel zu wenig beachteten Artikel in der FAZ mit dem Titel „Wider die Ökonomisierung der Bildung“ eindringlich vor einem reinen Nützlichkeitsdenken gewarnt, da ein strenger Utilitarismus genau die Schäden verursache, die man beklage. Insbesondere auch die geisteswissenschaftlichen Disziplinen – die heute sowohl an Schulen als auch an Universitäten im Rahmen eines bisher nie gekannten Drittmittel- und Employabilitywahns in ihrer Daseinsberechtigung angezweifelt werden – sollten dazu beitragen, die Kindern zu mündigen und kritischen Bürgern zu erziehen, die sowohl in ihrem persönlichen als auch im gesellschaftlichen Leben auf der Basis von Wissen kompetent Entscheidungen, Bewertungen und Kommunikationen durchführen können, was übrigens auch der Anspruch eines sinnvollen Kompetenzbegriffs durchaus anfangs war.

Kirschblog: Sie verwenden in diesem Zusammenhang öfter die Definition „Bildung ist Widerstand“. Was verstehen Sie darunter?

Prof. Klein:„Bildung bedeutet Widerstand“ ist eine der Sichtweisen von Bildung, die von meiner Kollegin Ursula Frost  von der Uni Köln in einem bemerkenswerten Vortrag auf der Gründungstagung unserer 2010 ins Leben gerufenen Gesellschaft für Bildung und Wissen (www.bildung-wissen.eu) zu diesem Thema vorgetragen wurde. Davon kann nun leider heute überhaupt keine Rede mehr sein. Ganz im Gegenteil scheinen die neuen Bildungskonzepte eher den angepassten und kritiklosen, möglichst auch nicht mit zuviel Wissen ausgestatteten Menschen als das ausgewiesene Ziel eines ökonomistischen Bildungsbegriffs zu fordern, der in Politik und Wirtschaft optimal verwertbar alle ihm aufgetragenen Aufgaben ohne Nachfragen erledigt und sich möglichst eigener Gedankengänge enthält, von Kritik ganz zu schweigen. Mainstream ist angesagt und das gilt in gleicher Weise mittlerweile auch für Wissenschaft und Forschung. Auch hier schwimmt man auf der vorgegebenen Welle mit. Kritische Geister, falls es sie überhaupt noch gibt, erhalten den Querulantenstatus und keine Drittmittel. Dabei haben gerade in der Wissenschaft insbesondere kritische Geister die Forschung voran gebracht, die immer wieder die wichtigen Fragen „Wieso“, „Weshalb“, „Warum“ gestellt haben. Heute ist es nur noch das Motto der Sesamstrasse und der Sendung mit der Maus. Kritiklose Bürger, die auf der Schiene des Zeitgeistes mit gefühltem Wissen mitschwimmen, sind halt leichter manipulierbar. Wie ich schon sagte: Unbildung!

Kirschblog: Gerade im anglo-amerikanischen Raum gehen die Schüler aber auch nur 12 Jahre in die Schule. Welche Erfahrungen hat man denn dort?

Prof. Klein: Dort hat man nur deswegen 12 Jahre Schule, da der Staat nur diese Zeit bezahlt. Danach wird das Bildungssystem mehr oder weniger komplett privatisiert. Auch die amerikanischen Colleges und Universitäten sehen dies durchaus kritisch und hätten lieber um wenigstens ein Jahr ältere Studienanfänger. Die kommen jetzt – wie hier nun auch – mit 17 Jahren dorthin und werden als „Freshmen“ bezeichnet, die in den ersten beiden Semestern eine Art Studium generale durchführen können, damit sie sich zuerst einmal orientieren können. Noch nicht einmal das gewährt man den deutschen Studienanfängern. „Helicopter Parents“ begleiten die Freshmen in den USA und üben durchaus Druck auf die Lehrenden aus, sie zahlen ja schließlich deutlich mehr als Zehntausend Dollar pro Semester für ihre Zöglinge und wollen nicht, dass diese dort nur Partys feiern. Und dieser Unfug hält derzeit Einzug in die deutschen Hochschulen. Zudem empfiehlt man den G8ern soziale Jahre, Auslandsaufenthalte, Praktika, Studium vorbereitende Veranstaltungen und vieles mehr, um die Zeit für die Aufnahme eines Studiums zu überbrücken. All das haben wir bei G9 nicht gebraucht.

Kirschblog: Aber auch in der ehemaligen DDR ging man maximal 12 Jahre zu Schule und die neuen Bundesländer haben auch heute meist G8?

Prof. Klein: Das stimmt, aber in der DDR haben auch nur weniger als 10% der Schüler die sogenannte Erweiterte Oberschule besucht, man hat also nur 10% Abiturienten generiert, also die besten eines Jahrgangs. Das geht nun gar nicht mit der derzeit ins Visier genommenen Abiturientenquote von mindestens 50%, es sei denn, man senkt die Ansprüche drastisch ab und das bestreitet heute ernsthaft niemand mehr.

Kirschblog: Aber die Hamburger KESS Studie behauptet doch das genaue Gegenteil.

Prof. Klein: Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr sich die Öffentlichkeit und selbst die Presse bluffen lassen. Wir untersuchen derzeit vergleichend die Hamburger Zentralabiturarbeiten von 2005 bis 2011 in den einzelnen Fächern und erste Ergebnisse weisen eher auf das genaue Gegenteil hin.

Kirschblog: Herr Professor Klein, vielen Dank für das Interview.

Einladung

Treffen der Hamburger G9 Befürworter:

14. Mai 2013

20 Uhr

Brechtschule

Norderstrasse 163-5

7 Minuten von Hauptbahnhof

Informationen zu Elterninitiative „G9-Jetzt-HH“unter:

http://www.g9-jetzt-hh.de,

Tel. 0172/4356563

„Vom allmählichen Verschwinden von Bildung und Wissen aus den Schulen“: Deputation beschließt die Umstellung von Schulen und Schulqualität auf „Kompetenz-Orientierung“

18 Sept

 

Viele Eltern haben es noch gar nicht bemerkt – in Hamburg vollzieht sich im Stillen eine neue umfassende Schulreform –  doch diesmal geht es nicht um Schulformen, nicht um Primarschule, Stadtteilschule oder Gymnasium – jetzt geht es um das, was Schüler zukünftig lernen sollen:

Schüler sollen in der Schule Kompetenzen erwerben. Das klingt gut – wer möchte nicht kompetente Kinder haben. Doch was verbirgt sich hinter dieser Kompetenzorientierung, die im Rahmen von Bildungsstandards jetzt in die Schulen eingeführt werden soll? Zunehmend warnen Bildungswissenschaftler davor, dass in den letzten Jahren in vielen Bundesländern ein Weg beschritten wurde, der fachunabhängige Kompetenzen in den Mittelpunkt von Schule und Unterricht stellt und dass die fachlichen Inhalte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen – auch in Hamburg. In Bildungsstandards und Testverfahren sollen die neuen Kompetenzen jetzt endgültig die Grundlage der Qualität von Schulen, der Beurteilung des Unterrichts der Lehrer sowie der Leistung der Schüler werden.  Das sieht Ties Rabes neuer „Orientierungsrahmen Schulqualität“ vor, den die Deputation der Schulbehörde in diesem Monat beschlossen hat.

Doch was sind Kompetenzen, was verbirgt sich hinter dem Begriff? Kirschsblogs Interview mit Professor Dr. Hans Peter Klein von der Goethe Universität Frankfurt:

Professor Dr. Hans Peter Klein unterrichtete mehr als 20 Jahre als Gymnasiallehrer und Lehrbeauftragter in der Lehrerausbildung an den Universitäten Köln und Koblenz, bevor er 2001 von der Goethe-Universität Frankfurt auf den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften berufen wurde. Professor Klein ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften (www.didaktik-biowissenschaften.de), Vorstandsmitglied der Bildungskommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, sowie Mitbegründer und Geschäftsführer der 2010 in Köln gegründeten Gesellschaft für Bildung und Wissen (www.bildung-wissen.eu). 2011/2012 war er als Gastprofessor am College of New Jersey (TCNJ) in den USA tätig

Kirschsblog:  Herr Professor Klein, „Der Bluff der Kompetenzorientierung“ ist der Titel eines Vortrages, den Sie jetzt in Hamburg aus Anlass der geplanten Umstellung der Hamburger Schulen auf Kompetenzen gehalten haben. Das klingt sehr provokant. Was haben Sie gegen Kompetenzen?

Professor Klein:  Gegen Kompetenzen hat natürlich niemand etwas. Welcher Lehrer würde nicht  sagen, dass der Erwerb von Kompetenz seiner Schüler in einzelnen Fächern und in allgemeiner schulischer Bildung nicht sein Ziel ist. Insofern ist das nichts Neues. Nun ist natürlich die Frage, was man unter Kompetenz versteht und was die Kompetenzorientierung in den Schulen tatsächlich nach sich zieht. Wenn man vom Alltagswissen her ausgeht, würde man sagen, kompetent ist jemand, der eine Sache sehr gut kann. Ein Beispiel: Von einem Tiefschneefahrer, der sehr gut Tiefschnee fährt,  würde man sagen, dass er eine Kompetenz im Tiefschneefahren hat und wenn er es nicht gut kann, dann fehlt ihm halt diese Kompetenz. Der nunmehr verwendete Kompetenzbegriff hat aber spätestens seit PISA eine grundlegend andere Bedeutung. Sie äußert sich darin, dass es darauf ankommt, Schüler im Rahmen einer Ökonomisierung der Bildung als „Humankapital“ in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig zu machen. Dieses Konzept ist über die OECD und die Bertelsmann-Stiftung den europäischen Ländern zur Einführung empfohlen, viele sagen diktiert worden. Vor allem das schlechte Abschneiden in der PISA Studie 2000 hat dann dazu geführt, dass die Kompetenzorientierung in der entscheidenden Schrift zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards , der sogenannten „Klieme Expertise“,  zur Einführung in das deutsche Bildungssystem festgeschrieben wurde.

Kirschsblog: Es gibt also eine eigene, besondere Bedeutung von „Kompetenz“ in Bildung und Unterricht?

Professor Klein: Ja. Man muß sich die rein unter einem ökonomischen Nützlichkeitsfaktor ausgerichtete Bedeutung des neuen „Kompetenzbegriffs“ deutlich machen. Dieser hat die Steuerung, Zentralisierung und Globalisierung des Bildungssystems zum Ziel. Bildung hat hier keinen Eigenwert mehr, daher droht Fächern wie Kunst, Musik, Geschichte, Literatur, von Latein und Altgriechisch ganz zu schweigen, die Verschiebung aufs Abstellgleis. Der amerikanische Soziologe Ritter spricht denn auch von einer „McDonaldisierung der Bildung“: das gleiche Produkt – der Output – soll wie zum Beispiel ein „Big Mac“ in der gleichen Qualität unabhängig von den Voraussetzungen, Bildungstraditionen, Bildungszielen u.a. hergestellt werden: Effizienz, Kalkulierbarkeit, Voraussagbarkeit, Kontrolle sind die modischen Zauberworte. Die Standardisierung des Produkts führt folgerichtig zu „Kompetenzlehrplänen“, um quantitative Statistiken über Bildungserfolge erstellen zu können. Interessanterweise sind die „Bildungsstandards“, die jetzt bei uns eingeführt werden, in den USA längst gescheitert.

Kirschsblog: Was heißt das, welche Erfahrung hat man denn dort damit gemacht?

Professor Klein: Das Ganze ist doch keine deutsche Erfindung. Bereits Anfang der 90er Jahre wurden  in den USA „Bildungsstandards“ flächendeckend eingeführt, um das extreme Bildungsgefälle der einzelnen Bundesstaaten in den Griff zu bekommen. Die Professorin Diane Ravitch, einst glühende Verfechterin von Bildungsstandards, die an deren Einführung unter George Bush, Senior, maßgeblich beteiligt war, hat vor wenigen Jahren ein in den USA viel beachtetes Buch geschrieben: „The Death and Life of the Great American School System. How Tests and Choice are Underminig Education“. Sinngemäß übersetzt bedeutet das: Bildungsstandards führen zur Aushöhlung der Bildung. Und anstatt von den Erfahrungen aus den USA zu lernen, führen wir das jetzt gerade ein.

Kirschsblog: Dem deutschen Bildungssystem wird aber doch vorgeworfen, dass man bisher zuviel Wissen gepaukt habe, mit dem die Schüler nichts hätten anfangen können.

Professor Klein: Genau. Die Lehrer haben demnach in der Schule bisher nur Wissensbestände „aufeinander gepackt“ , das heißt die Schüler haben „additiv“ gelernt und das erworbene Wissen nicht anwenden können, so die Kritik. Daher müsse man sich von dieser „Inputorientierung“ und fachlich vorgeschriebenen Inhalten verabschieden und eine Umstellung auf „outputorientierte Kompetenzen“ vornehmen: Das heißt, ein „vernetztes“,  oder auch „kumulatives Lernen“ sei die Alternative.

Kirschsblog: Das klingt aber doch gut!

Professor Klein: Nun wird sicherlich niemand etwas gegen vernetztes Lernen haben und ich glaube, dass die meisten Lehrer auch genau dies in der Vergangenheit versucht haben – auch wenn es sicherlich nicht immer gelungen sein mag. Eine besondere Betonung auf vernetztes Lernen zu legen ist sicherlich nicht falsch. Hier muss aber die Frage gestellt werden, was man denn vernetzen soll, wenn die Fachinhalte, die es ja zu vernetzen gilt, in den jetzt eingeführten Konzepten eine deutlich untergeordnete Rolle spielen.

Kirschsblog: Sie sagen also, dass es bei den „Kompetenzen“ nicht mehr wie bisher um Inhalte geht,  sondern dass da etwas Neues entstanden ist. Aber was ist denn dann an die Stelle der Inhalte getreten?

Professor Klein: Man muss hier zwei Dinge klar trennen: Einmal die schon angesprochene „Legitimationsschrift“ zur Einführung nationaler Bildungsstandards von 2003, also die „Klieme Expertise“. Aus ihr geht klar hervor, das „Kompetenzen an Inhalten“ zu erwerben sind. Nun verfolgen aber die meisten Bundesländer ein fast gegenteiliges Konzept: Darin sollen die sogenannten „überfachlichen Kompetenzen“, oft auch als „Schlüsselqualifikationen“ bezeichnet, den Kern des neuen Unterrichts ausmachen. Die Begriffe „Kompetenz“ und „Wissen“ werden also willkürlich getrennt, wie der Ausdruck „überfachliche Kompetenzen“ denn ja auch klar formuliert. Gleichzeitig werden sogenannte „Kerncurricula“, Lehr- oder Rahmenpläne, für die Schulen entwickelt: Nicht nur Lehrer dachten, dass in diesen „Kerncurricula“ entsprechend der Bedeutung dieses Begriffs inhaltliche Schwerpunkte in den einzelnen Fächern gesetzt werden sollten, die damit zu einer sinnvollen inhaltlichen Konzentrierung auf das Wesentliche führen sollten. Das Gegenteil ist aber der Fall: „Kerncurricula“ enthalten keinerlei inhaltliche Vorgaben, sondern nur noch Kompetenzbeschreibungen. Es bleibt den Schulen überlassen, die jeweiligen Inhalte dazu zu suchen.

Kirschsblog: Ja, zum Beispiel hier in Hamburg. Hier werden konkrete fachliche Inhalte kaum noch erwähnt, dafür ist von vielen „überfachlichen Kompetenzen“ die Rede, wie z.B. Sozialkompetenz, Personalkompetenz und vielerlei Methodenkompetenzen. (http://li.hamburg.de/keks/)

Professor Klein: Wie schon angedeutet, verfolgt man da ein rein wirtschaftsorientiertes Konzept, indem man die „Kompetenzen“ in den Mittelpunkt stellt, von denen angenommen wird, dass die globale Wirtschaft von zukünftigen Berufstätigen diese am ehesten braucht: Bildung als Ware. Diese Form der Kompetenzorientierung ist also aus einem bildungsökonomischen Hintergrund entstanden, der aus den USA stammt. Denn auch dort man der Meinung, dass genau diese Orientierung die Gewähr dafür bieten könnte, eine „Beschäftigungsfähigkeit im Beruf“ , bzw. „employability“ der Heranwachsenden zu garantieren. Allerdings hat man in den USA nicht den Fehler gemacht, diese Art der Kompetenzorientierung, die dort schon in den 70er Jahren entwickelt worden ist, als „competency based leanring“ oder „competency based training“ in allen Schulen einzuführen. Ganz im Gegenteil ist dies heutzutage auf nur wenige Schulen begrenzt. In den meisten amerikanischen Schulen, insbesondere in den High Schools, aber auch an den Colleges, fährt man eher ein gegenteiliges System, wie einige der in der PISA Studie ganz vorn stehenden asiatischen Länder teilweise auch: Auswendiglernen von Fakten und Testen „bis der Arzt kommt“, ein ebenso fragwürdiges Konzept.

Kirschsblog: „Fachliche Kompetenzen“ und Fachwissen rücken also in den Hintergrund.

Professor Klein: Genau. Fachwissen belastet das Gehirn, wir vergessen es sowieso, zudem verändert es sich dauernd und außerdem ist Wissen allgegenwärtig im Internet ständig allzeit verfügbar, deshalb stellen wir die überfachlichen Kompetenzen in den Mittelpunkt, so die Protagonisten dieser Entwicklung in den einzelnen Bundesländern. Diese Art der Kompetenzorientierung schwappt auch schon auf die Hochschulen über: „Musik ohne Noten und Goethe ohne Deutsch“ wie kürzlich in einem Artikel von Heike Schmoll in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen war.

Kirschsblog: Das ist, wenn ich Sie richtig verstehe, auch Ihre Kritik. Sie bemängeln, dass durch die Einführung der Kompetenzen im Rahmen der Bildungsstandards insbesondere Wissen und Inhalte  zurückgehen und zwar in erheblichem Umfang.

Professor Klein: Ja, man braucht sich nur die neuen kompetenzorientierten Aufgaben anzuschauen, die in den Schulen und insbesondere auch in den Zentralabiturarbeiten der einzelnen Bundesländer mittlerweile angewendet werden. Der Schüler erhält – übrigens wie bei PISA Aufgaben, die ja ebenfalls kompetenzorientierte Aufgabenstellungen enthalten – ausführliche Textmaterialien mit Grafiken und Kurvendarstellungen, in denen nahezu alle Informationen enthalten sind, die er braucht, um die danach folgenden Fragen lösen zu können. Es hat Untersuchungen in Biologie und neuerdings auch in Mathematik gegeben, in denen klar nachgewiesen wird, dass Lesekompetenz weitgehend ausreicht, um diese Aufgabenstellungen zumindest in einem befriedigenden Bereich lösen zu können. Und zwar nicht nur in Biologie und Mathematik, auch in den Sprachen. Um eine Zentralabituraufgabe zu Shakespeare lösen zu können, muss man ihn keinesfalls gelesen haben, dies könnte eher hinderlich sein (wie neueste Untersuchungen zeigen, die kurz vor dem Abschluss sind).

Kirschsblog: Diese Untersuchungen haben Sie zusammen mit Lehrern auch selbst durchgeführt.

Professor Klein: Ja, wir haben eine Zentralabiturarbeit eines Leistungskurses in Biologie, also dem höchsten Anspruchsniveau, einer neunten Klasse in G9 vorgelegt, die den Stoff und Inhalte also überhaupt nicht kannten. Und das Ergebnis war eindeutig: Bis auf zwei haben alle Schüler dieser neunten Klasse die kompetenzorientierte Aufgabenstellung ohne Probleme lösen können, teilweise sogar mit guten und sehr guten Noten (die komplette Untersuchung ist zu finden unter www.didaktik-biowissenschaften.de und dort unter Journal (F).

Kirschsblog: Wie ist denn das möglich?

Professor Klein: Das ist ganz einfach: Nahezu alle Antworten stehen in dem ausführlichen und fünfseitigem Arbeitsmaterial. Es ist ähnlich wie bei Pisa Aufgaben: Der Schüler braucht praktisch kaum Vorwissen mitzubringen, er muss Texte lesen und verstehen können und braucht dann nur das, was schon im Text steht, den Fragen zuzuordnen.

Kirschsblog: Das heißt, es geht um Lesekompetenz!

Professor Klein: Ja, Lesekompetenz reicht aus, selbst in Mathematik, wie die neueste Untersuchung zeigt, um in einer Zentralabitursarbeit zumindest ein „ausreichend“ zu erzielen, ohne dass man z.B. „Analysis“ Aufgaben rechnen kann. Ein Schulleiter brachte es auf unserer Tagung „Irrwege der Unterrichtsreform“ im März diesen Jahres bezüglich dieser Form der Kompetenzorientierung als Vorbereitung auf das Zentralabitur so auf den Punkt: „Lest Euch die Texte durch, notfalls schreibt sie komplett ab, für ein „ausreichend“ reicht das allemal“.

Kirschsblog: Sie haben Ihre Untersuchung auch mit Abituraufgaben aus der Zeit vor der Einführung der Kompetenzen als Kontrolle durchgeführt. Konnten die Schüler diese früheren Aufgaben auch problemlos bearbeiten?

Professor Klein: In der Biologieuntersuchung haben wir auf eine Durchführung mit der ganzen Klasse verzichten müssen, da es sich bereits in vorherigen „Pretests“ mit einigen der Schüler zeigte, dass diese überhaupt nichts mit diesen Aufgaben anfangen konnten: Ihnen fehlte komplett das fachliche Vorwissen, um fachlich anspruchsvolle Aufgaben dieser Art auch nur annähernd bearbeiten zu können. In der Mathematik-Kontrolle kamen die meisten Schüler nicht einmal über ein „ungenügend“ hinaus. Auch hier handelte es sich um eine fachlich wesentlich anspruchsvollere Aufgabenstellung (auch diese Untersuchung ist einzusehen unter www.didaktik-biowissenschaften.de und dort unter Journal (F)

Kirschsblog: Aber ist denn das Ganze überhaupt so schlimm? Sie haben schon erwähnt: Es wurde ja in der Vergangenheit vielfach kritisiert, es gebe einen viel zu hohen Wissensballast in der Schule. Das Meiste, was man in der Schule lerne, habe man doch später sowieso meist vergessen. Wozu brauchen wir denn soviel Wissen? Sind nicht vielleicht wirklich Kompetenzen wichtiger?

Professor Klein: Schlagen Sie doch die aktuellen Tages- oder Wochenzeitungen auf. Spätestens seit einem Jahr liest man immer öfter, dass eine zunehmende Anzahl von Abiturienten für die Aufnahme eines Studiums kaum noch in der Lage sind: In den Ingenieurwissenschaften fallen derzeit bis zu 70 Prozent der Erstsemester durch, in der ZEIT konnte man gerade lesen, nicht einmal 50 Prozent der Studenten erreichen den Bachelor, sondern brechen ihr Studium vorher ab. In Mathematik gibt es mittlerweile Horrorzahlen –  auch im Lehramt in Köln – wonach 92 Prozent der Erstsemester die Erstsemester Klausur nicht geschafft haben. Und jetzt übt man in der Presse auch noch Druck auf die Universitäten aus. Sie werden aufgefordert, sich aus dem „Elfenbeinturm“ zu bewegen, und es wird kritisiert, dass an den Universitäten wohl nicht bekannt sei, dass wir Ingenieure und Mathematiker brauchen.

Kirschblog: Und wie reagieren die Universitäten darauf?

Professor Klein: In der einschlägigen „Bildungspresse“ wird oft nicht einmal gefragt, ob die Schüler, die jetzt den neuen kompetenzorientierten Unterricht und das „teaching to the test“  als Vorbereitung auf kompetenzorientierte Zentralabituraufgabenstellungen genossen haben, vielleicht gar nicht mehr das notwendige Fachwissen zur Aufnahme eines derartigen Studiums haben. Denn Mathematik bedeutet mehr als nur Textaufgaben lösen zu können. Horst Hippler, der Präsident der deutschen Hochschullehrerkonferenz, formulierte die hohen Abbrecherquoten besonders in der Mathematik und den Ingenieurwissenschaften mehr als deutlich: es fehlen vielfach die notwendigen fachlichen Kenntnisse, um ein derartiges Studium erfolgreich aufnehmen zu können. Auf die Frage „warum“ kam die ebenso deutliche Antwort: „weil man den Stoff und die Intensität verringern muss, damit ein größerer Teil der Bevölkerung zum Abitur gelangt“ (Focus 28/12).

Kirschsblog: Was bedeutet das für die Studierfähigkeit der Abiturienten?

Professor Klein: Horst Hippler bringt es auf den Punkt: Das derzeitige Abitur ist keine hinreichende Qualifikation für die Aufnahme eines Studiums. Ein zusätzlicher bundesweiter Test – ähnlich dem SAT-Test in den USA – muss her. Viele der Protganonisten dieser Entwicklung behaupten dagegen, die Schule – auch das Gymnasium – habe nicht die Aufgabe, Schüler auf die Aufnahme eines Studiums in einem Fach vorzubereiten.

Kirschsblog: Auf was denn sonst?

Professor Klein: Eben auf die bereits erwähnten fachunabhängigen Kompetenzen, die man zur Bewältigung des privaten und beruflichen Alltags in einer globalisierten Welt braucht.

Kirschsblog: Was sagen denn die Verantwortlichen in Berlin zu dieser Entwicklung?

Professor Klein: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, dass diese Entwicklung mit hunderten von Millionen Euro in den letzten 10 Jahren mit auf den Weg gebracht hat, scheint zu ahnen, das da nicht alles glatt läuft: Dort hat man jetzt gerade noch einmal 500 Millionen Euro in die Hochschulen gepumpt, und zwar in den sogenannten „Qualitätspakt Lehre“, um damit „Brückenkurse für Erstsemester“ anzubieten. Das ist sozusagen ein „Nachhilfeunterricht für nicht studierfähige Abiturienten“, denen grundlegende Wissensbestände für die Aufnahme eines erfolgreichen Studiums einfach fehlen.

Kirschsblog:  Sie haben Ihren Biologietest ja mit einer  Zentralabiturarbeit in Nordrhein Westfalen durchgeführt. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe will ab dem Jahr 2014 auch in Hamburg das Zentralabitur einführen, und zwar erst in allen Fächern in ganz Hamburg, und dann soll es bundesweite Zentralabituraufgaben in einigen Fächern geben. Darüber wurde gerade in diesen Tagen in Hamburg noch einmal heftig diskutiert. Das  Zentralabitur beschädige die neue Profiloberstufe, so die Kritik.  In Zeitungsberichten wurde außerdem gewarnt, dass das Zentralabitur viel „schwerer“ wird:  Nämlich spätestens dann, wenn Abituraufgaben gemeinsam mit Bayern entwickelt werden? Wird es  schwerer?

Professor Klein:  Nein! Es wird nicht schwerer. Es wird vielmehr der unterste gemeinsame Nenner genommen, der möglich ist. Die Hamburger brauchen da keine Angst zu haben oder glauben Sie, dass es sich die politisch Verantwortlichen erlauben können, Durchfallquoten im zweistelligen Bereich zu generieren? Nehmen Sie das Beispiel Nordrhein Westfalen. Dort hatten die Lehrer im  Jahr 2007, als auf das Zentralabitur umgestellt wurde, auch diese Sorgen. Dies war unnötig, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat. In Probedurchläufen werden die Aufgabenstellungen solange weich gespült, bis keiner oder kaum noch jemand scheitern kann. Ergebnisgleichheit ist das Ziel. Betrogen sind aber alle: die Leistungsschwächeren, weil ihnen eigentlich unzureichende Leistungen als ausreichende attestiert werden und dies in ihrer weiteren Entwicklung zum Bumerang werden dürfte und die Leistungsstärkeren ebenso, denn die können sich an solchen Aufgabenstellungen kaum noch auszeichnen.

Kirschsblog: Warum protestieren Eltern und Lehrer nicht gegen diese Entwicklung?

Professor Klein: Wiederum ganz einfach: Hinter all diesen schönen Formulierungen gepaart mit den Erfolgsmeldungen in der Presse über jährlich immer besser werdende Schüler mit immer besseren Noten im Abitur wird die tatsächliche Entwicklung kaschiert. Die Lehrer werden mit Schulinspektionen sanktioniert, die ihnen in einigen Bundesländern – völlig unabhängig von jeder wissenschaftlicher Untersuchung –  auch noch die genauen Unterrichtsmethoden vorschreiben.

Kirschsblog: Was sagen Sie denn zu den Hamburger Entwürfen?

Professor Klein: Ich bin völlig überrascht, wie viele Fässer da derzeit gleichzeitig für die Schulen in Hamburg aufgemacht werden, womit allerdings Hamburg nicht alleine dasteht: Bildungsstandards, Kompetenzorientierung, Kerncurricula, Schulcurricula, Schulinspektion, Qualitätsmanagement, Individualisierung (bei Klassenstärken von teilweise 30 Schülern und mehr), strukturelle Reformen wie Stadtteilschule und Gymnasium, Inklusion und vieles mehr. Die Umsetzung jeder einzelnen dieser Maßnahmen, wenn man sie dann ernst nehmen würde, kostet eine Menge Geld – das hat man aber nicht, es muss selbstverständlich alles kostenneutral auf den Weg gebracht werden.

Kirschsblog: Was ist mit den Lehrern, wie stehen sie dazu?

Professor Klein: Die Lehrer werden mit all dem völlig alleine gelassen. Mir ist kein Land der Welt bekannt, dass derartig fahrlässig teilweise noch nicht einmal angedachte Konzepte einfach so den Schulen verordnet, nach dem Motto: Friss oder stirb. So kann man ein Bildungssystem in kürzester Zeit in Schutt und Asche reformieren. Ties Rabe hat ja kürzlich in der ZEIT ein interessantes Interview gegeben mit dem Titel: „Wir werden ständig mit Ideen überflutet“. Lieber Ties Rabe: Hören Sie doch einfach nicht darauf und nehmen Sie Finnland als Beispiel. Die Finnen haben schon in den 90er Jahren die Schulinspektion komplett abgeschafft, weil sie sich als ineffektiv herausgestellt hat. In Finnland werden die Lehrer fachlich und pädagogisch gut ausgebildet, dort hat man deutlich kleinere Klassenstärken und überläßt es der Kompetenz der Lehrer, ihren Unterricht so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. Und mit den frei werdenden Stellen aus dem Qualitätsmanagement können Sie viele Lehrer mehr einstellen.

Kirschsblog: Was sagen denn die führenden Vertreter der neuen Konzepte zu Ihren Vorwürfen?

Professor Klein: Man konnte vor kurzem einen interessanten Artikel des Kollegen Heinz Elmar Tenorth, einem der führenden Vertreter der neuen Konzepte, in der FAZ lesen. Darin stellte er sich  verwundert die Frage, warum denn gerade die Kompetenzorientierung auf einen derartigen Widerstand bei den Lehrern und ihren „erziehungswissenschaftlichen Kampfgenossen“ – damit waren wir gemeint – stoße, wo doch in der „Klieme Expertise“ von 2003 ausdrücklich nicht von fachunabhängigen Kompetenzen die Rede gewesen sei. Dort habe man vielmehr betont, dass ein Kompetenzaufbau nur auf einem soliden Fachwissen möglich sei.

Kirschsblog: Und was ist die Antwort auf diese Frage?

Professor Klein: Ganz einfach. Wenn Kompetenzen so wunderbar wären, müssten wir zum Einen dieses Interview jetzt nicht führen, und die Verantwortlichen in den zuständigen Abteilungen der Behörde müssten auch nicht – gegen Ausschreibung von Beförderungsstellen – Kompetenzteams bilden, die die vielen widerspenstigen Lehrer auf Linie bringen sollen. Auf der anderen Seite muss man natürlich den Autoren der „Klieme Expertise“ vorwerfen, dass Sie es vielleicht gut gemeint haben, sich aber überhaupt nicht um die praktische Durchführung in den Schulen kümmern. Das überlassen Sie den Qualitätsinstituten in den einzelnen Bundesländern und die kochen ihr eigenes Süppchen.

Kirschsblog: Eigenes Süppchen? Die Gegenseite behauptet ja, dass ihre Maßnahmen Erfolge zeigen: So konnten in kürzester Zeit die Abiturientenquoten fast verdoppelt werden, auch die Zahl der Akademiker steigt an.

Professor Klein: Um hohe Abiturienten- und Akademikerquoten zu generieren, mit denen man seine erfolgreiche Politik in der Öffentlichkeit publik machen kann, werden aber die Ansprüche nivelliert und als Exzellenz ausgewiesen. Die vielleicht einmal positiv gedachte Kompetenzorientierung wird ins Gegenteil verwandelt – nämlich in die fachlich ungebundene, also überfachliche Kompetenzorientierung, wie sie in den Kerncurricula der einzelnen Bundesländer manifestiert sind, „es wimmelt dort nur so vor lauter Kompetenzen“ wie neulich in der FAZ zu lesen war.

Kirschsblog: Sie meinen also, die ursprüngliche Richtung der Kompetenzen, die fach- und wissensgebunden gemeint waren, hat sich verselbstständigt und ist in eine falsche Richtung gelaufen?

Professor Klein: Sie ist nicht nur in die falsche Richtung gelaufen, sie ist von denen, die sie „in der falschen Richtung“ haben wollten, ganz bewusst dorthin bewegt worden.

Kirschsblog: Das hört sich ja alles nicht besonders beruhigend an. Was wollen Sie denn dagegen unternehmen?

Professor Klein: 2010 haben wir die Gesellschaft für Bildung und Wissen gegründet, die mittlerweile mehr als 150 Bildungswissenschaftler und mehr als 300 Schulleiter, Fachleiter, Lehrer, Eltern u.a aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in ihren Reihen hat, und die diese Entwicklung äußerst kritisch betrachtet. Sie will eine Diskussion in Gang bringen, in der am Ende vielleicht ein tragfähiges Gegenkonzept mit allen Beteiligten entstehen wird, das Bildung und Wissen wieder als zentrale Komponenten einer Allgemeinbildung enthält, frei von ökonomischen Ansprüchen, die in den jetzt auf den Weg gebrachten Konzepten leider nicht mehr zu erkennen ist. In dem Artikel „Wider die Ökonomisierung der Bildung“ hat kein Geringerer als Eberhard von Kuenheim, ehemals Vorstandsvorsitzender von BMW, in der FAZ dazu eindeutig Stellung bezogen: „Die – vorgeblich durch die Zwänge der Wirtschaft erforderliche – Ökonomisierung der Bildung ist der falsche Weg. Indizien belegen, dass eben sie die Schäden verursacht, die man beklagt“ (FAZ Nr. 87 vom 13.4.2011).

Kirschsblog: Werden Sie denn überhaupt wahrgenommen?

Professor Klein: Wir werden unterstützt von nahezu allen Lehrerverbänden, vielen Elternverbänden, Reformpädagogen und vielen an tatsächlicher Bildung Interessierten im gesamten deutschsprachigen Raum (www.bildung-wissen.eu). Was mich beruhigt ist, dass alle Top-down Verordnungen im Bildungssystem in den letzten 50 Jahren letztendlich gescheitert sind, weil man die Lehrer als tragende Säulen des schulischen Bildungsgeschehens an diesen Konzepten nicht beteiligt hat. Kürzlich äußersten sich zwei Professoren aus England und den USA in der SZ zur Angloamerikanisierung des deutschen Bildungssystems unter der Überschrift „Eine deutsche „akademische Königsklasse?“. Die abschließende Beurteilung des amerikanischen Kollegen sollte einen mehr als nachdenklich stimmen: „Heute stellt sich eher die Frage, ob Wilhelm von Humboldts Idee und die von ihm erfundenen Strukturen irgendwo auf der Welt im universitären Leben nachhaltiger vergessen… sind als in Deutschland“ (SZ Nr. 153, Seite 5)  – und mit der Einführung der Bildungsstandards gilt dies auch für die Schulen in Deutschland.