„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, so hat Altkanzler Helmut Schmidt einmal einen anderen SPD Altkanzler, Willi Brand, kritisiert. Er riet damit zu mehr Vernunft, Mäßigung und nüchtern-pragmatischem Vorgehen in der Politik, anstelle von Pathos und Weltverbesserungs-Ideen. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz, an sich auch eher für hanseatische Nüchternheit bekannt, hat an diesem Wochenende mit einem Ausflug in die Welt der Visionen auf sich aufmerksam gemacht. Er hat, so hieß es gestern im Hamburger Abendblatt, „Visionen von einem besseren Hamburg“? http://www.abendblatt.de/hamburg/article2172179/Olaf-Scholz-Vision-von-einem-besseren-Hamburg.html
Im „Mittelpunkt seiner Vision eines besseren Hamburgs“, mit dem er „neue Menschen… anlocken“ wolle, stehe der Bereich Bildung, heißt es im Abendblatt: „Hamburg kann ein flächendeckendes Angebot mit Krippen und Ganztagsschulen vorweisen“, zitiert das Abendblatt Olaf Scholz. „Hinzu käme die schrittweise Einführung der Beitragsfreiheit für den fünfstündigen Kitabesuch…bis 2015“ und kleine Klassen insbesondere an Grundschulen. „Hamburg wird wahrscheinlich die skandinavischste Stadt Deutschlands“, so zitiert das Abendblatt den SPD Bürgermeister. Scholz spiele damit auf die „Vorreiterrolle“ skandinavischer Länder im Bereich Bildung an.
Die Visionen von Olaf Scholz haben bei vielen Eltern in Hamburg Kritik und Fragen ausgelöst. Kritik, weil der SPD Bürgermeister die vom SPD Senat geplanten Hamburger Ganztagsschulen in die Nähe skandinavischer Ganztagsschulen rückt. Zum anderen fragen sich Eltern, ob die Bildung in Skandinavien überhaupt das geeignete Vorbild für die Schulen ihrer Kinder ist?
Hier ein Faktencheck: Sind skandinavische Länder wirklich Vorreiter im Bereich Bildung?
1. Pisa-Sieger Finnland
Pisa-Sieger Finnland ist seit Beginn der Pisa-Tests vor 11 Jahren Vorreiter im Bereich Bildung. Allerdings: Ganztagsschulen gehören nicht dazu: „Die finnische Schule ist (nach landesspezifischer Definition) eine Halbtagsschule. Die Ganztagsschule ist ein relativ neues Konzept, das bisher nur in sechs Modellschulen praktiziert wird… An den finnischen Gesamtschulen wird an jedem Tag kostenlos ein warmes Essen für alle Schüler ausgegeben… Nur für die Schüler der ersten beiden Klassen gibt es eine Hortbetreuung am Nachmittag.“ Quelle: Bildungsforschung Band 2,Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter PISA-Teilnehmerstaaten , http://www.bmbf.de/pub/pisa-vergleichsstudie.pdf
Auch wenn die finnischen Schulen in der Regel keine Ganztagsschulen sind, verfügen sie aber doch über eine ausgezeichnete personelle Ausstattung. Beispiel Schulpersonal: „Finnische Schulen besitzen eine große Dichte an zusätzlichen Personal, mindestens einmal pro Woche an den Schulen vertreten, in größeren Schulen sogar täglich: (1)Schulschwester,(2)Kurator,(3)Psychologen,(4)Speziallehrer,(5)Assistenten.(6)Küchenpersonal“ http://www.unibw.de/paed/tes/downloads/HT08/finnischebildungs-undschulsystem08.12.08.pps
Von einer Vorreiterrolle Finnlands in Punkto Ganztagsschulen kann man also nicht sprechen, vielmehr gibt dort eine Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Nachmittagsangeboten für Kinder nach und außerhalb der Schule. Für Finnlands Pisa-Siege gibt es darüber hinaus nach Auffassung von Fachleuten viele Gründe, unter anderem der niedrige Migrantenanteil von 2, 5 Prozent http://www.dija.de/finnland/kinder-und-jugendhilfe-in-der-praxis-fi/integration-von-kindern-und-jugendlichen-mit-migrationshintergrund/, in Hamburg liegt er dagegen weit darüber, nämlich bei rund 29 Prozent. http://www.hamburg.de/migration/
2. Schwedischer Ganztag
Im Gegensatz zu Finnland gibt es in Schweden Ganztagsschulen. Doch der Ganztag endet früher, als vom SPD Senat in Hamburg gewünscht und geplant: „Der Schultag geht gewöhnlich von 8 Uhr bis 15 Uhr. Anschließend besteht die Möglichkeit, ein der Schule angegliedertes „fritidshem“ (Schülerhort) zu besuchen, in dem qualifiziertes Personal die Kinder betreuen und Programm bieten“, heißt es auf einer Informationsseite über das schwedische Schulsystem. http://www.inschweden.se/index.php?option=com_content&task=view&id=125&Itemid=156.
Hinzu kommt, dass berufstätige Eltern in Schweden auch das Recht haben, ihre Arbeitszeit so flexibel zu gestalten, dass sie sich mehr Zeit für ihre Kinder nehmen und schon am Nachmittag gemeinsame Familienzeit haben können: „Eltern haben des Weiteren das Recht, ihre Arbeitszeit bis zum achten Lebensjahr des Kindes um bis zu zwei Stunden täglich zu verkürzen, allerdings ohne Lohnausgleich. Bei Krankheit eines Kindes besteht für ein Elternteil oder für eine … von den Eltern beauftragte Person ein Anspruch auf Arbeitsfreistellung und eine damit einhergehende Gewährung eines zeitweiligen Elternschaftsgeldes in Höhe von 80 % des Einkommens für bis zu 120 Tage pro Jahr und Kind. http://de.wikipedia.org/wiki/Vereinbarkeit_von_Familie_und_Beruf_in_einzelnen_Staaten
In punkto Schulzeiten und familienfreundliche Arbeitszeiten ist Schweden sicher für viele Hamburger Eltern ein Vorbild. Allerdings beharrte der SPD Senat bis vor kurzem auf festen schulischen Nachmittags-Betreuungszeiten von 13 bis 16 Uhr. Konkrete Regelungen für frühere, flexibler Abholzeiten gibt es noch nicht.
3. Ausstattung von Ganztagsschule in Skandinavien
Schwedische, finnische und auch andere skandinavische Schulen sind im Vergleich zu den von der SPD geplanten Ganztagsschulen in Hamburg erheblich besser ausgestattet. In ihren Ausbau wurde viel Zeit und Geld investiert. Von skandinavischen Verhältnissen ist die Ausstattung der Hamburger Ganztagsschulen mit zweigeteilten Klassenzimmern und Mensen, in denen im Schichtbetrieb gegessen wird, himmelweit entfernt. Zur Ausstattung schwedischer Ganztagsschulen: Eine schwedische Modellschule ist zum Beispiel die Futurum Skola in Balsta, die im Jahr 1997 nach einem ungewöhnlichen pädagogischen Konzept ausgebaut wurde. Hier kann man sie sich anschauen: http://www.freie-lernorte.de/schulenvorort/internationalekooperationen/futurum.php
Vorbildlich ist Skandinavien auch beim Betreuungsschlüssel in der Kinderbetreuung und bei der Größe der Klassen.
Zur Kinderbetreuung: „Gruppengrößen von 15 Kindern sollten besser durch zwei Mitarbeiter/innen betreut werden. Die Länder Schweden, Dänemark und Finnland verfügen bereits über einen besseren Personal-Schlüssel als den empfohlen EU-Mindeststandard. Die Fachkraft-Kind-Relation bewegt sich im Rahmen von 6:1 bzw. 7:1 ist. http://www.kindergartenpaedagogik.de/2221.html
Die Klassengröße beträgt in Finnland 19,5, Schweden 21,2, im Vergleich zu Hamburg mit 23/19 bzw. 28 (Gymnasium) Kindern pro Klasse: http://www.bmbf.de/pub/pisa-vergleichsstudie.pdf
4. Schulische Leistungen in Skandinavien:
Skandinavische Schulen sind zumeist Gesamtschulen. Während ihre Ausstattung vorbildlich ist, gilt dies allerdings nicht für die schulischen Ergebnisse skandinavischer Schulen. Das zeigten die letzten Pisatests, speziell Pisa 2009. „Schwächeln unsere skandinavischen Vorbilder?“, so lautete 2010 der Titel eines ZEIT Artikels. Das Vorbild Skandinavien sei ein Mythos, hieß es mit Verweis darauf, dass dänische und norwegische Schüler bei Pisa 2009 leistungsschwächer als ihre „deutschen Altersgenossen“ abgeschnitten hatten. Ebenso abgesackt war Schweden, das lange Vorbild gewesen sei, weil es vor 10 Jahren bei Pisa besser als Deutschland abgeschnitten hatte, bei einem vergleichbaren Anteil an Migranten. „Vielleicht weil in den Schulen eben zu wenig auf Leistung geachtet wurde.“ http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2010-12/pisa-fragen-antworten/seite-2„
Konkret: In Mathematik lag Deutschland bei Pisa 2009 auf Platz 16, Island auf Platz 18, Dänemark auf Platz 19, Norwegen auf Platz 21 und Schweden auf Platz 26. Auch in den Naturwissenschaften lag Deutschland deutlich über OECD Durchschnitt auf Platz 13, vor den skandinavischen Ländern. Nur bei der Lesekompetenz lagen die skandinavischen Länder vor Deutschland. http://www.oecd.org/document/21/0,3746,de_34968570_39907066_43316757_1_1_1_1,00.html .
Allerdings hatte sich die Lesekompetenz in Deutschland seit Pisa 2000 gebessert. “ Der Unterschied zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ist …deutlich geringer geworden, obschon die verbliebene Differenz weiterhin bedenklich groß ist“, schrieb der Spiegel, und weiter: „Auch wenn man den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund, Bildungsverlauf und erworbenen Kompetenzen betrachtet, ergeben sich Hinweise auf mehr Chancengleichheit im deutschen Schulsystem.“ http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,733310-4,00.html
Resumee:
Es ist also keineswegs angebracht, pauschal von einer allgemeinen Vorreiterrolle Skandinaviens im Bereich Bildung zu sprechen. Für Umsetzung, Tempo und Ausstattung seiner Ganztags-Schulreform könnte und sollte sich der SPD Senat unter Bürgermeister Olaf Scholz skandinavische Länder schnell noch zum Vorbild nehmen. In Hinblick auf die schulischen Leistungen haben dagegen skandinavische Länder offensichtlich erhebliche Probleme. Hamburgs Schulpolitiker sollte sie allenfalls näher betrachten, um eine Wiederholung dieser Probleme zu vermeiden.