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Wird das Zentralabi ab 2017 ein „Abi Light?“ Zum Hamburger KMK Beschluss über einheitliche Bildungsstandards für das Zentralabitur

21 Okt

Fast wirkte der Hamburger Schulsenator und Präsident der deutschen Kultusministerkonferenz Ties Rabe bei der Pressekonferenz der KMK am Freitag enttäuscht, weil noch keiner der vielen Journalisten nach einem zentralen Stichwort gefragt hatte: So nannte er es selbst:  Wissen!  Kritiker, so Ties Rabe, würden immer wieder vor einem Verlust an „Wissen“ durch die Einführung  von „Kompetenzen“ warnen,  die nun nach Beschluss der Kultusministerkonferenz die Grundlage bundesweit einheitlicher Bildungsstandards für ein Zentralabitur in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch bzw. Französisch bilden sollen. Die Bildungssstandards  wurden vom Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) und Fachleuten der Länder entwickelt und sollen mit Beginn der 11. Klassen ab 2014 zu einem bundesweiten Zentralabi in diesen Fächern im Jahr 2017 führen. Bis 2017 soll außerdem ein gemeinsamer Aufgabenpool für  bundesweit einheitliche Abiprüfungen entwickelt werden, aus dem die Länder dann Aufgaben entnehmen können. Allerdings finden die Abiturprüfungen der Länder weiter wie bisher an unterschiedlichen Terminen statt.

Worauf Ties Rabe mit dem Stichwort Wissen abzielte: Immer mehr Bildungsforscher kritisieren, dass mit der Umstellung auf Kompetenzen und Kompetenzorientierung ein Verlust an Wissen und Bildung in Unterricht und Abitur droht.

Hintergrund: Was sind Bildungsstandards? Was sind Kompetenzen?

Die seit 2003 schrittweise eingeführten „Bildungsstandards“ lösen die zuvor geltenden Lehrpläne ab. Während Lehrpläne festlegten, welche Inhalte Schüler wie lernen sollen, geht es in den Bildungsstandards um Kompetenzen, die Schüler am Ende der Schulzeit beim jeweiligen Schulabschluss, in diesem Fall also dem Abitur, entwickelt haben sollen. Kompetenz wird hier allerdings, anders als im Alltag,  als ein schwer greifbarer Fachbegriff mit vielerlei Definitionen verwandt.  Neben den fachlichen gibt es dabei auch sogenannte „überfachliche Kompetenzen“, wie  z.B. Sozialkompetenz oder emotionale Kompetenz. „Der Begriff „Kompetenz hat etwas Respekteinflößendes“, schreibt Helmut Meißner, Studiendirektor und ehemaliger Fachleiter am Studienseminar Karlsruhe im Juli in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Aus Sorge, sich zu blamieren“, wage kaum einer zu fragen, „was es mit den Kompetenzen auf sich habe, die den Schüler beigebracht werden sollen“. Ein Austausch an Argumenten werde so erschwert . http://www.seiten.faz-archiv.de/faz/20120705/fd1201207053366317.html

Was man im Fall der jetzt vereinbarten gemeinsamen Bildungsstandards unter Kompetenzen versteht, erklärte Professor Petra Stanat, Direktoren des IQB am Freitag so: „Unter einer Kompetenz wird … die Fähigkeit verstanden, Wissen und Können in den jeweiligen Fächern zur Lösung von Problemen anzuwenden“. Es gehe nicht darum, Kompetenzen vom Wissensstoff zu befreien, sondern darum, das Wissen anwenden zu können, ergänzte Ties Rabe.

Doch  in ihrer Erklärung zum Beschluss der KMK  führte seine Amtskollegin, die FDP Kultusministerin von Hessen, Nicola Beer, in wenigen klaren Worten genau die Punkte an,  die für die Kritiker Anlass zu ihrer Warnung vor den Kompetenzen und einem drohenden Wissensverlust sind.

Hessens Kultusministerin Nicola Beer: „modernes Qualitätsniveau“ durch Kompetenzen

Durch die KMK Einigung auf gemeinsame Bildungsstandards  würden zwei Ziele erreicht, erklärte Nicola Beer. Zum einen würde durch die einheitlichen Bildungsstandards eine „stärkere Vergleichbarkeit“ zwischen den Bundesländern erreicht. Zum anderen wolle man mit diesem „wichtigen Schritt“ die Qualität sichern. Sie erklärte dann auch, was das aus ihrer Sicht bedeute:

Es gehe heute nicht mehr darum, drei oder vier Gedichte zu lernen, erklärte die hessische Kultusministerin am Beispiel des Fachs Deutsch. Vielmehr entwickelten sich heute immer neue Sachverhalte, die sich jeder „holen“ könne.  Mit der Kompetenzorientierung gebe es nun ein neues „modernes Qualitätsniveau“.  Es gehe dabei um das „was die Leute brauchen…um erfolgreich für ein späteres Leben zu sein, für Studium und Beruf“, so die FPD Ministerin, die für alle CDU regierten Bundesländer in der KMK sprach. Das Ziel sei „Kompetenzvermittlung in allen Bereichen“.

Kritiker: kompetenzorientierte Bildungsstandards führen zu Abi-Light

Nicola Beer brachte mit ihrer Erklärung exakt das auf den Punkt, was Kritiker wie der Bildungsforscher Professor Hans Peter Klein von der Universität Frankfurt an der Kompetenzorientierung bemängeln: „Man muß sich die rein unter einem ökonomischen Nützlichkeitsfaktor ausgerichtete Bedeutung des neuen “Kompetenzbegriffs” deutlich machen. Dieser hat die Steuerung, Zentralisierung und Globalisierung des Bildungssystems zum Ziel. Bildung hat hier keinen Eigenwert mehr, daher droht Fächern wie Kunst, Musik, Geschichte, Literatur, von Latein und Altgriechisch ganz zu schweigen, die Verschiebung aufs Abstellgleis“. https://kirschsblog.wordpress.com/author/kirschsblog/ Sein Kollege, Matthias Burchard, vom Institut für Bildungsphilosophie der Universität Köln spricht im Zusammenhang mit dem Kompetenzerwerb von „Bildung Light für magere Zeiten“. http://bildung-wissen.eu/glossen/kompetenz.html

Die Folge der Kompetenzorientierung sei ein Verlust an Fachwissen und eine „Nivellierung der Ansprüche auf breiter Front“, erklärte Bildungsforscher Klein vor wenigen Tagen in der FAZ. Das gilt auch für die kompetenzorientierten Abitursaufgaben, wie seine Untersuchungen des Zentralabiturs in Nordrhein-Westfalen belegen. Dort hat er Prüfungsaufgaben für das Abitur in Mathematik und Abiaufgaben für einen Biologie-Leistungskurses jeweils niedrigeren 9. und 11.Klassen vorgelegt, die den Stoff nicht kannten. Bis auf je zwei hatten alle jüngeren Schüler die Aufgaben in beiden Abifächern mit zum Teil sehr guten Noten gelöst. Der Grund, so Professor Klein: Bei  kompetenzorientierten Aufgaben seien „nahezu alle Antworten in dem ausführlichen Arbeitsmaterial“ enthalten. Vorwissen sei kaum nötig, zur Beantwortung der Aufgaben brauchte man nur den Text lesen und verstehen zu können, also Lesekompetenz. http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/interview-moeglichst-viele-schueler-sollen-das-abitur-bestehen-11913477.html

KMK-Präsident Ties Rabe: „Schwierigkeitsniveau zwischen Bundesländern wächst zusammen“

„Wir haben jetzt kein Abi-Light“ betonte dagegen KMK-Präsident Rabe am Freitag. Die KMK habe sich seit Jahren damit befaßt, die Vergleichbarkeit in deutschen Bildungssystemen zu verbessern, so Ties Rabe. Der Beschluss der KMK sorge jetzt dafür, dass das Bildungssystem zusammenwachse. Mit den gemeinsamen Bildungsstandards werde das „Schwierigkeitsniveau zwischen den Bundesländern angeglichen“. Mit den Bildungsstandards für das Abitur habe die KMK Vergleichbarkeit und Qualität erreicht, ohne „irgendwie irgendwo nivelliert“ zu haben, versicherte auch die Bildungsministerin von Rheinland Pfalz, Doris Ahnen, SPD.

Kompetenzen aber kein konkreten Fachinhalte: Beispiel Bildungsstandard Deutsch

Bildungsstandards dienen der vertieften Allgemeinbildung, der Festlegung verbindlicher Regelstandards für das, was „Schüler können sollen“ (kompetenzorientiert)  und der Einführung in die Wissenschaft, erklärte Professor Petra Spanat. Letzteres sei gerade im Fach Deutsch verstärkt worden, im Bildungsstandard Mathematik sei im Vergleich zu vorher die Stochastik und in den Fremdsprachen das Mündliche gestärkt worden.

Was ein Bildungsstandard enthält, erklärte sie am Beispiel Deutsch. Dieser Bildungsstandard umfasst  264 Seiten. Darin werden die Kompetenzen aufgeführt und näher beschrieben, die die Schüler am Ende der gymnasialen Oberstufe erreicht haben sollen. Es sind Kompetenzen, wie  Lesen, Sprechen, Verstehen, oder die etwas holprig klingende Kompetenz „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“, alles unterteilt in grundlegendes und höheres Niveau. Darüber hinaus liefert der Bildungsstandard Hinweise zur Durchführung der Prüfungen und schließlich noch einzelne Beispiele für Lern- und Prüfungsaufgaben. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf

„Alle Schüler sollen dieselben Kompetenzen erreichen“, erklärte Professor Petra Stanat dazu. Über die fachlichen Inhalte geben die Bildungsstandards allerding keine konkrete Auskunft. So gibt es z.B. unter dem Stichwort „sich mit literarischen Texten auskennen“ keine Literaturangaben. Da heißt es vielmehr ganz allgemein: „Die Schülerinnen und Schüler erschließen sich literarische Texte von der Aufklärung bis zur Gegenwart und verstehen das Ästhetische als eine spezifische Weise der Wahrnehmung, der Gestaltung und der Erkenntnis“.

Es werde kein fester „Kanon“ für den Lesestoff „definiert“, erklärte Professor Spanat. Für sie wäre es allerdings auch ein „Horror, wenn wir alle dieselben Texte lesen sollen“.  Kompetenzen sollten allerdings nicht losgelöst von Inhalten erreicht werden, das sei eine „völlig unberechtigte Kritik“.

Bildungswissenschaftler warnen vor „Absinken der Ansprüche bei den Abiaufgaben“

Die Kritiker unter den Bildungsforschern sehen das allerdings ganz anders:  „Die Begriffe „Kompetenz“ und „Wissen“ würden „willkürlich getrennt. Statt „inhaltliche Schwerpunkte in den einzelnen Fächern zu setzten, die zu einer sinnvollen inhaltlichen Konzentration auf das Wesentliche führen“, enthielten die kompetenzorientierten Standards, Rahmenpläne oder Curricula „keinerlei inhaltliche Vorgaben, sondern nur noch Kompetenzbeschreibungen. Es bleibe den Schulen überlassen, die jeweiligen Inhalte dazu zu suchen.“, so Professor Hans Peter Klein. Er warnt vor vor einem Absinken der Ansprüche bei den Abiaufgaben zum Zentralabitur. Schon jetzt führten die fehlenden Fachkenntnisse der Studienanfänger zu hohen Abbrecherquoten, besonders in der Mathematik und den Ingenieurwissenschaften.

Ähnlich kritisch äußerte sich auch in der Süddeutschen vor zwei Monaten der Philosoph Professor Christoph Tücke:

„Prüfen lässt sich freilich immer nur ein Können. Aber Können ist stets Können von etwas. Es bemisst sich an seinem Fundus: den Stoffen, Inhalten, Gewichten, die es koordiniert und balanciert.“, so Professor Tücke von der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.  „Vernünftige Prüfer beurteilen das Gekonnte immer in Bezug auf seinen Fundus. Ihre Beurteilung ist daher stets eine Abwägung – ebenfalls ein Balancieren, bei dem sie sich genauso vertun können wie Prüflinge. Wenn aber der Fundus zum Schattenreich des Könnens verblasst, zählt nicht mehr das Können von etwas, sondern Können an sich,  Kompetenz.“ http://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2012/09/tuercke_lernen.pdf

Die Liste der Kompetenzkritiker ließe sich noch deutlich verlängern, dazu gehören ua. der Bonner Bildungswissenschaftler Professor Dr. Jochen Krautz, die Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Volker Ladenthin aus Bonn und Professor Andreas Groschka aus Frankfurt.

Die Rolle des Instituts zur Qualitätsentwicklung in Berlin

Doch Kultusminister und KMK halten beharrlich an der Kompetenzorientierung fest. Neben dem bundesweiten „Aufgabenpool mit gleich schweren, standardbasierten und kompetenzorientierten“ Prüfungsaufgaben für das Zentralabitur in den Fächern Deutsch, Mathe und Fremdsprachen bereiten sie bereits die Entwicklung der nächsten kompetenzorientierten Bildungsstandards für die Naturwissenschaften vor.

Das IQB, so heißt es in der Pressemitteilung der KMK , wird dabei stets “ federführend auch den Prozess der Entwicklung von Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife in den Fächern Biologie, Chemie und Physik verantworten, mit denen der Prozesss der Standardentwicklung fortgesetzt wird“. Die wissenschaftliche Überprüfung der „bundesweit gleich schweren Abituraufgaben sowie einheitlicher Bewertungskriterien zur Korrektur und Bewertung der Abituraufgaben“ kommen dazu. Das IQB wird dabei „regelmäßig in mehrjährigen Abständen“ überprüfen, „inwieweit es gelingt, die in den Bildungsstandards formulierten Lernziele zu erreichen“.  http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/meldung/ergebnisse-der-339-plenarsitzung-der-kultusministerkonferenz-am-18-und-19-oktober-2012-in-hamburg.html, http://www.iqb.hu-berlin.de/bista/control

Hinzu kommt die Forschung, die “theoretische und empirische Fundierung der Kompetenzen“, die „Ländervergleichsstudien“, die „Vergleichsarbeiten“ und vieles mehr:

„Zum Kerngeschäft des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gehört die Operationalisierung und Erfassung von Kompetenzen.“http://www.iqb.hu-berlin.de/research/research1

Das IQB wird also mit den Aufgaben und Aufträgen rund um Kompetenzen viele Jahre beschäftigt sein, und seine zentrale Bedeutung wird dabei angesichts des Zusammenwachsens  der bundesweiten Schulsysteme durch die Einführung von immer mehr einheitlichen Bildungsstandards immer weiter zunehmen. Interessant dürfte werden, welche Bedeutung und Gestaltungsmöglichkeiten Bildungswissenschaftlern  außerhalb der IQB angesichts dieser  Rolle der IQB bleiben  und wie offen Politiker und KMK gegenüber Ergebnissen  wissenschaftlicher Untersuchungen und der Kritik der zahlreichenden Wissenschaflter sind, die vor den Folgen der Kompetenzorientierung, einem „Abi Light“ und  einem Verlust an Wissen und Bildung, warnen.

„Vom allmählichen Verschwinden von Bildung und Wissen aus den Schulen“: Deputation beschließt die Umstellung von Schulen und Schulqualität auf „Kompetenz-Orientierung“

18 Sept

 

Viele Eltern haben es noch gar nicht bemerkt – in Hamburg vollzieht sich im Stillen eine neue umfassende Schulreform –  doch diesmal geht es nicht um Schulformen, nicht um Primarschule, Stadtteilschule oder Gymnasium – jetzt geht es um das, was Schüler zukünftig lernen sollen:

Schüler sollen in der Schule Kompetenzen erwerben. Das klingt gut – wer möchte nicht kompetente Kinder haben. Doch was verbirgt sich hinter dieser Kompetenzorientierung, die im Rahmen von Bildungsstandards jetzt in die Schulen eingeführt werden soll? Zunehmend warnen Bildungswissenschaftler davor, dass in den letzten Jahren in vielen Bundesländern ein Weg beschritten wurde, der fachunabhängige Kompetenzen in den Mittelpunkt von Schule und Unterricht stellt und dass die fachlichen Inhalte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen – auch in Hamburg. In Bildungsstandards und Testverfahren sollen die neuen Kompetenzen jetzt endgültig die Grundlage der Qualität von Schulen, der Beurteilung des Unterrichts der Lehrer sowie der Leistung der Schüler werden.  Das sieht Ties Rabes neuer „Orientierungsrahmen Schulqualität“ vor, den die Deputation der Schulbehörde in diesem Monat beschlossen hat.

Doch was sind Kompetenzen, was verbirgt sich hinter dem Begriff? Kirschsblogs Interview mit Professor Dr. Hans Peter Klein von der Goethe Universität Frankfurt:

Professor Dr. Hans Peter Klein unterrichtete mehr als 20 Jahre als Gymnasiallehrer und Lehrbeauftragter in der Lehrerausbildung an den Universitäten Köln und Koblenz, bevor er 2001 von der Goethe-Universität Frankfurt auf den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften berufen wurde. Professor Klein ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften (www.didaktik-biowissenschaften.de), Vorstandsmitglied der Bildungskommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, sowie Mitbegründer und Geschäftsführer der 2010 in Köln gegründeten Gesellschaft für Bildung und Wissen (www.bildung-wissen.eu). 2011/2012 war er als Gastprofessor am College of New Jersey (TCNJ) in den USA tätig

Kirschsblog:  Herr Professor Klein, „Der Bluff der Kompetenzorientierung“ ist der Titel eines Vortrages, den Sie jetzt in Hamburg aus Anlass der geplanten Umstellung der Hamburger Schulen auf Kompetenzen gehalten haben. Das klingt sehr provokant. Was haben Sie gegen Kompetenzen?

Professor Klein:  Gegen Kompetenzen hat natürlich niemand etwas. Welcher Lehrer würde nicht  sagen, dass der Erwerb von Kompetenz seiner Schüler in einzelnen Fächern und in allgemeiner schulischer Bildung nicht sein Ziel ist. Insofern ist das nichts Neues. Nun ist natürlich die Frage, was man unter Kompetenz versteht und was die Kompetenzorientierung in den Schulen tatsächlich nach sich zieht. Wenn man vom Alltagswissen her ausgeht, würde man sagen, kompetent ist jemand, der eine Sache sehr gut kann. Ein Beispiel: Von einem Tiefschneefahrer, der sehr gut Tiefschnee fährt,  würde man sagen, dass er eine Kompetenz im Tiefschneefahren hat und wenn er es nicht gut kann, dann fehlt ihm halt diese Kompetenz. Der nunmehr verwendete Kompetenzbegriff hat aber spätestens seit PISA eine grundlegend andere Bedeutung. Sie äußert sich darin, dass es darauf ankommt, Schüler im Rahmen einer Ökonomisierung der Bildung als „Humankapital“ in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig zu machen. Dieses Konzept ist über die OECD und die Bertelsmann-Stiftung den europäischen Ländern zur Einführung empfohlen, viele sagen diktiert worden. Vor allem das schlechte Abschneiden in der PISA Studie 2000 hat dann dazu geführt, dass die Kompetenzorientierung in der entscheidenden Schrift zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards , der sogenannten „Klieme Expertise“,  zur Einführung in das deutsche Bildungssystem festgeschrieben wurde.

Kirschsblog: Es gibt also eine eigene, besondere Bedeutung von „Kompetenz“ in Bildung und Unterricht?

Professor Klein: Ja. Man muß sich die rein unter einem ökonomischen Nützlichkeitsfaktor ausgerichtete Bedeutung des neuen „Kompetenzbegriffs“ deutlich machen. Dieser hat die Steuerung, Zentralisierung und Globalisierung des Bildungssystems zum Ziel. Bildung hat hier keinen Eigenwert mehr, daher droht Fächern wie Kunst, Musik, Geschichte, Literatur, von Latein und Altgriechisch ganz zu schweigen, die Verschiebung aufs Abstellgleis. Der amerikanische Soziologe Ritter spricht denn auch von einer „McDonaldisierung der Bildung“: das gleiche Produkt – der Output – soll wie zum Beispiel ein „Big Mac“ in der gleichen Qualität unabhängig von den Voraussetzungen, Bildungstraditionen, Bildungszielen u.a. hergestellt werden: Effizienz, Kalkulierbarkeit, Voraussagbarkeit, Kontrolle sind die modischen Zauberworte. Die Standardisierung des Produkts führt folgerichtig zu „Kompetenzlehrplänen“, um quantitative Statistiken über Bildungserfolge erstellen zu können. Interessanterweise sind die „Bildungsstandards“, die jetzt bei uns eingeführt werden, in den USA längst gescheitert.

Kirschsblog: Was heißt das, welche Erfahrung hat man denn dort damit gemacht?

Professor Klein: Das Ganze ist doch keine deutsche Erfindung. Bereits Anfang der 90er Jahre wurden  in den USA „Bildungsstandards“ flächendeckend eingeführt, um das extreme Bildungsgefälle der einzelnen Bundesstaaten in den Griff zu bekommen. Die Professorin Diane Ravitch, einst glühende Verfechterin von Bildungsstandards, die an deren Einführung unter George Bush, Senior, maßgeblich beteiligt war, hat vor wenigen Jahren ein in den USA viel beachtetes Buch geschrieben: „The Death and Life of the Great American School System. How Tests and Choice are Underminig Education“. Sinngemäß übersetzt bedeutet das: Bildungsstandards führen zur Aushöhlung der Bildung. Und anstatt von den Erfahrungen aus den USA zu lernen, führen wir das jetzt gerade ein.

Kirschsblog: Dem deutschen Bildungssystem wird aber doch vorgeworfen, dass man bisher zuviel Wissen gepaukt habe, mit dem die Schüler nichts hätten anfangen können.

Professor Klein: Genau. Die Lehrer haben demnach in der Schule bisher nur Wissensbestände „aufeinander gepackt“ , das heißt die Schüler haben „additiv“ gelernt und das erworbene Wissen nicht anwenden können, so die Kritik. Daher müsse man sich von dieser „Inputorientierung“ und fachlich vorgeschriebenen Inhalten verabschieden und eine Umstellung auf „outputorientierte Kompetenzen“ vornehmen: Das heißt, ein „vernetztes“,  oder auch „kumulatives Lernen“ sei die Alternative.

Kirschsblog: Das klingt aber doch gut!

Professor Klein: Nun wird sicherlich niemand etwas gegen vernetztes Lernen haben und ich glaube, dass die meisten Lehrer auch genau dies in der Vergangenheit versucht haben – auch wenn es sicherlich nicht immer gelungen sein mag. Eine besondere Betonung auf vernetztes Lernen zu legen ist sicherlich nicht falsch. Hier muss aber die Frage gestellt werden, was man denn vernetzen soll, wenn die Fachinhalte, die es ja zu vernetzen gilt, in den jetzt eingeführten Konzepten eine deutlich untergeordnete Rolle spielen.

Kirschsblog: Sie sagen also, dass es bei den „Kompetenzen“ nicht mehr wie bisher um Inhalte geht,  sondern dass da etwas Neues entstanden ist. Aber was ist denn dann an die Stelle der Inhalte getreten?

Professor Klein: Man muss hier zwei Dinge klar trennen: Einmal die schon angesprochene „Legitimationsschrift“ zur Einführung nationaler Bildungsstandards von 2003, also die „Klieme Expertise“. Aus ihr geht klar hervor, das „Kompetenzen an Inhalten“ zu erwerben sind. Nun verfolgen aber die meisten Bundesländer ein fast gegenteiliges Konzept: Darin sollen die sogenannten „überfachlichen Kompetenzen“, oft auch als „Schlüsselqualifikationen“ bezeichnet, den Kern des neuen Unterrichts ausmachen. Die Begriffe „Kompetenz“ und „Wissen“ werden also willkürlich getrennt, wie der Ausdruck „überfachliche Kompetenzen“ denn ja auch klar formuliert. Gleichzeitig werden sogenannte „Kerncurricula“, Lehr- oder Rahmenpläne, für die Schulen entwickelt: Nicht nur Lehrer dachten, dass in diesen „Kerncurricula“ entsprechend der Bedeutung dieses Begriffs inhaltliche Schwerpunkte in den einzelnen Fächern gesetzt werden sollten, die damit zu einer sinnvollen inhaltlichen Konzentrierung auf das Wesentliche führen sollten. Das Gegenteil ist aber der Fall: „Kerncurricula“ enthalten keinerlei inhaltliche Vorgaben, sondern nur noch Kompetenzbeschreibungen. Es bleibt den Schulen überlassen, die jeweiligen Inhalte dazu zu suchen.

Kirschsblog: Ja, zum Beispiel hier in Hamburg. Hier werden konkrete fachliche Inhalte kaum noch erwähnt, dafür ist von vielen „überfachlichen Kompetenzen“ die Rede, wie z.B. Sozialkompetenz, Personalkompetenz und vielerlei Methodenkompetenzen. (http://li.hamburg.de/keks/)

Professor Klein: Wie schon angedeutet, verfolgt man da ein rein wirtschaftsorientiertes Konzept, indem man die „Kompetenzen“ in den Mittelpunkt stellt, von denen angenommen wird, dass die globale Wirtschaft von zukünftigen Berufstätigen diese am ehesten braucht: Bildung als Ware. Diese Form der Kompetenzorientierung ist also aus einem bildungsökonomischen Hintergrund entstanden, der aus den USA stammt. Denn auch dort man der Meinung, dass genau diese Orientierung die Gewähr dafür bieten könnte, eine „Beschäftigungsfähigkeit im Beruf“ , bzw. „employability“ der Heranwachsenden zu garantieren. Allerdings hat man in den USA nicht den Fehler gemacht, diese Art der Kompetenzorientierung, die dort schon in den 70er Jahren entwickelt worden ist, als „competency based leanring“ oder „competency based training“ in allen Schulen einzuführen. Ganz im Gegenteil ist dies heutzutage auf nur wenige Schulen begrenzt. In den meisten amerikanischen Schulen, insbesondere in den High Schools, aber auch an den Colleges, fährt man eher ein gegenteiliges System, wie einige der in der PISA Studie ganz vorn stehenden asiatischen Länder teilweise auch: Auswendiglernen von Fakten und Testen „bis der Arzt kommt“, ein ebenso fragwürdiges Konzept.

Kirschsblog: „Fachliche Kompetenzen“ und Fachwissen rücken also in den Hintergrund.

Professor Klein: Genau. Fachwissen belastet das Gehirn, wir vergessen es sowieso, zudem verändert es sich dauernd und außerdem ist Wissen allgegenwärtig im Internet ständig allzeit verfügbar, deshalb stellen wir die überfachlichen Kompetenzen in den Mittelpunkt, so die Protagonisten dieser Entwicklung in den einzelnen Bundesländern. Diese Art der Kompetenzorientierung schwappt auch schon auf die Hochschulen über: „Musik ohne Noten und Goethe ohne Deutsch“ wie kürzlich in einem Artikel von Heike Schmoll in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen war.

Kirschsblog: Das ist, wenn ich Sie richtig verstehe, auch Ihre Kritik. Sie bemängeln, dass durch die Einführung der Kompetenzen im Rahmen der Bildungsstandards insbesondere Wissen und Inhalte  zurückgehen und zwar in erheblichem Umfang.

Professor Klein: Ja, man braucht sich nur die neuen kompetenzorientierten Aufgaben anzuschauen, die in den Schulen und insbesondere auch in den Zentralabiturarbeiten der einzelnen Bundesländer mittlerweile angewendet werden. Der Schüler erhält – übrigens wie bei PISA Aufgaben, die ja ebenfalls kompetenzorientierte Aufgabenstellungen enthalten – ausführliche Textmaterialien mit Grafiken und Kurvendarstellungen, in denen nahezu alle Informationen enthalten sind, die er braucht, um die danach folgenden Fragen lösen zu können. Es hat Untersuchungen in Biologie und neuerdings auch in Mathematik gegeben, in denen klar nachgewiesen wird, dass Lesekompetenz weitgehend ausreicht, um diese Aufgabenstellungen zumindest in einem befriedigenden Bereich lösen zu können. Und zwar nicht nur in Biologie und Mathematik, auch in den Sprachen. Um eine Zentralabituraufgabe zu Shakespeare lösen zu können, muss man ihn keinesfalls gelesen haben, dies könnte eher hinderlich sein (wie neueste Untersuchungen zeigen, die kurz vor dem Abschluss sind).

Kirschsblog: Diese Untersuchungen haben Sie zusammen mit Lehrern auch selbst durchgeführt.

Professor Klein: Ja, wir haben eine Zentralabiturarbeit eines Leistungskurses in Biologie, also dem höchsten Anspruchsniveau, einer neunten Klasse in G9 vorgelegt, die den Stoff und Inhalte also überhaupt nicht kannten. Und das Ergebnis war eindeutig: Bis auf zwei haben alle Schüler dieser neunten Klasse die kompetenzorientierte Aufgabenstellung ohne Probleme lösen können, teilweise sogar mit guten und sehr guten Noten (die komplette Untersuchung ist zu finden unter www.didaktik-biowissenschaften.de und dort unter Journal (F).

Kirschsblog: Wie ist denn das möglich?

Professor Klein: Das ist ganz einfach: Nahezu alle Antworten stehen in dem ausführlichen und fünfseitigem Arbeitsmaterial. Es ist ähnlich wie bei Pisa Aufgaben: Der Schüler braucht praktisch kaum Vorwissen mitzubringen, er muss Texte lesen und verstehen können und braucht dann nur das, was schon im Text steht, den Fragen zuzuordnen.

Kirschsblog: Das heißt, es geht um Lesekompetenz!

Professor Klein: Ja, Lesekompetenz reicht aus, selbst in Mathematik, wie die neueste Untersuchung zeigt, um in einer Zentralabitursarbeit zumindest ein „ausreichend“ zu erzielen, ohne dass man z.B. „Analysis“ Aufgaben rechnen kann. Ein Schulleiter brachte es auf unserer Tagung „Irrwege der Unterrichtsreform“ im März diesen Jahres bezüglich dieser Form der Kompetenzorientierung als Vorbereitung auf das Zentralabitur so auf den Punkt: „Lest Euch die Texte durch, notfalls schreibt sie komplett ab, für ein „ausreichend“ reicht das allemal“.

Kirschsblog: Sie haben Ihre Untersuchung auch mit Abituraufgaben aus der Zeit vor der Einführung der Kompetenzen als Kontrolle durchgeführt. Konnten die Schüler diese früheren Aufgaben auch problemlos bearbeiten?

Professor Klein: In der Biologieuntersuchung haben wir auf eine Durchführung mit der ganzen Klasse verzichten müssen, da es sich bereits in vorherigen „Pretests“ mit einigen der Schüler zeigte, dass diese überhaupt nichts mit diesen Aufgaben anfangen konnten: Ihnen fehlte komplett das fachliche Vorwissen, um fachlich anspruchsvolle Aufgaben dieser Art auch nur annähernd bearbeiten zu können. In der Mathematik-Kontrolle kamen die meisten Schüler nicht einmal über ein „ungenügend“ hinaus. Auch hier handelte es sich um eine fachlich wesentlich anspruchsvollere Aufgabenstellung (auch diese Untersuchung ist einzusehen unter www.didaktik-biowissenschaften.de und dort unter Journal (F)

Kirschsblog: Aber ist denn das Ganze überhaupt so schlimm? Sie haben schon erwähnt: Es wurde ja in der Vergangenheit vielfach kritisiert, es gebe einen viel zu hohen Wissensballast in der Schule. Das Meiste, was man in der Schule lerne, habe man doch später sowieso meist vergessen. Wozu brauchen wir denn soviel Wissen? Sind nicht vielleicht wirklich Kompetenzen wichtiger?

Professor Klein: Schlagen Sie doch die aktuellen Tages- oder Wochenzeitungen auf. Spätestens seit einem Jahr liest man immer öfter, dass eine zunehmende Anzahl von Abiturienten für die Aufnahme eines Studiums kaum noch in der Lage sind: In den Ingenieurwissenschaften fallen derzeit bis zu 70 Prozent der Erstsemester durch, in der ZEIT konnte man gerade lesen, nicht einmal 50 Prozent der Studenten erreichen den Bachelor, sondern brechen ihr Studium vorher ab. In Mathematik gibt es mittlerweile Horrorzahlen –  auch im Lehramt in Köln – wonach 92 Prozent der Erstsemester die Erstsemester Klausur nicht geschafft haben. Und jetzt übt man in der Presse auch noch Druck auf die Universitäten aus. Sie werden aufgefordert, sich aus dem „Elfenbeinturm“ zu bewegen, und es wird kritisiert, dass an den Universitäten wohl nicht bekannt sei, dass wir Ingenieure und Mathematiker brauchen.

Kirschblog: Und wie reagieren die Universitäten darauf?

Professor Klein: In der einschlägigen „Bildungspresse“ wird oft nicht einmal gefragt, ob die Schüler, die jetzt den neuen kompetenzorientierten Unterricht und das „teaching to the test“  als Vorbereitung auf kompetenzorientierte Zentralabituraufgabenstellungen genossen haben, vielleicht gar nicht mehr das notwendige Fachwissen zur Aufnahme eines derartigen Studiums haben. Denn Mathematik bedeutet mehr als nur Textaufgaben lösen zu können. Horst Hippler, der Präsident der deutschen Hochschullehrerkonferenz, formulierte die hohen Abbrecherquoten besonders in der Mathematik und den Ingenieurwissenschaften mehr als deutlich: es fehlen vielfach die notwendigen fachlichen Kenntnisse, um ein derartiges Studium erfolgreich aufnehmen zu können. Auf die Frage „warum“ kam die ebenso deutliche Antwort: „weil man den Stoff und die Intensität verringern muss, damit ein größerer Teil der Bevölkerung zum Abitur gelangt“ (Focus 28/12).

Kirschsblog: Was bedeutet das für die Studierfähigkeit der Abiturienten?

Professor Klein: Horst Hippler bringt es auf den Punkt: Das derzeitige Abitur ist keine hinreichende Qualifikation für die Aufnahme eines Studiums. Ein zusätzlicher bundesweiter Test – ähnlich dem SAT-Test in den USA – muss her. Viele der Protganonisten dieser Entwicklung behaupten dagegen, die Schule – auch das Gymnasium – habe nicht die Aufgabe, Schüler auf die Aufnahme eines Studiums in einem Fach vorzubereiten.

Kirschsblog: Auf was denn sonst?

Professor Klein: Eben auf die bereits erwähnten fachunabhängigen Kompetenzen, die man zur Bewältigung des privaten und beruflichen Alltags in einer globalisierten Welt braucht.

Kirschsblog: Was sagen denn die Verantwortlichen in Berlin zu dieser Entwicklung?

Professor Klein: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, dass diese Entwicklung mit hunderten von Millionen Euro in den letzten 10 Jahren mit auf den Weg gebracht hat, scheint zu ahnen, das da nicht alles glatt läuft: Dort hat man jetzt gerade noch einmal 500 Millionen Euro in die Hochschulen gepumpt, und zwar in den sogenannten „Qualitätspakt Lehre“, um damit „Brückenkurse für Erstsemester“ anzubieten. Das ist sozusagen ein „Nachhilfeunterricht für nicht studierfähige Abiturienten“, denen grundlegende Wissensbestände für die Aufnahme eines erfolgreichen Studiums einfach fehlen.

Kirschsblog:  Sie haben Ihren Biologietest ja mit einer  Zentralabiturarbeit in Nordrhein Westfalen durchgeführt. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe will ab dem Jahr 2014 auch in Hamburg das Zentralabitur einführen, und zwar erst in allen Fächern in ganz Hamburg, und dann soll es bundesweite Zentralabituraufgaben in einigen Fächern geben. Darüber wurde gerade in diesen Tagen in Hamburg noch einmal heftig diskutiert. Das  Zentralabitur beschädige die neue Profiloberstufe, so die Kritik.  In Zeitungsberichten wurde außerdem gewarnt, dass das Zentralabitur viel „schwerer“ wird:  Nämlich spätestens dann, wenn Abituraufgaben gemeinsam mit Bayern entwickelt werden? Wird es  schwerer?

Professor Klein:  Nein! Es wird nicht schwerer. Es wird vielmehr der unterste gemeinsame Nenner genommen, der möglich ist. Die Hamburger brauchen da keine Angst zu haben oder glauben Sie, dass es sich die politisch Verantwortlichen erlauben können, Durchfallquoten im zweistelligen Bereich zu generieren? Nehmen Sie das Beispiel Nordrhein Westfalen. Dort hatten die Lehrer im  Jahr 2007, als auf das Zentralabitur umgestellt wurde, auch diese Sorgen. Dies war unnötig, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat. In Probedurchläufen werden die Aufgabenstellungen solange weich gespült, bis keiner oder kaum noch jemand scheitern kann. Ergebnisgleichheit ist das Ziel. Betrogen sind aber alle: die Leistungsschwächeren, weil ihnen eigentlich unzureichende Leistungen als ausreichende attestiert werden und dies in ihrer weiteren Entwicklung zum Bumerang werden dürfte und die Leistungsstärkeren ebenso, denn die können sich an solchen Aufgabenstellungen kaum noch auszeichnen.

Kirschsblog: Warum protestieren Eltern und Lehrer nicht gegen diese Entwicklung?

Professor Klein: Wiederum ganz einfach: Hinter all diesen schönen Formulierungen gepaart mit den Erfolgsmeldungen in der Presse über jährlich immer besser werdende Schüler mit immer besseren Noten im Abitur wird die tatsächliche Entwicklung kaschiert. Die Lehrer werden mit Schulinspektionen sanktioniert, die ihnen in einigen Bundesländern – völlig unabhängig von jeder wissenschaftlicher Untersuchung –  auch noch die genauen Unterrichtsmethoden vorschreiben.

Kirschsblog: Was sagen Sie denn zu den Hamburger Entwürfen?

Professor Klein: Ich bin völlig überrascht, wie viele Fässer da derzeit gleichzeitig für die Schulen in Hamburg aufgemacht werden, womit allerdings Hamburg nicht alleine dasteht: Bildungsstandards, Kompetenzorientierung, Kerncurricula, Schulcurricula, Schulinspektion, Qualitätsmanagement, Individualisierung (bei Klassenstärken von teilweise 30 Schülern und mehr), strukturelle Reformen wie Stadtteilschule und Gymnasium, Inklusion und vieles mehr. Die Umsetzung jeder einzelnen dieser Maßnahmen, wenn man sie dann ernst nehmen würde, kostet eine Menge Geld – das hat man aber nicht, es muss selbstverständlich alles kostenneutral auf den Weg gebracht werden.

Kirschsblog: Was ist mit den Lehrern, wie stehen sie dazu?

Professor Klein: Die Lehrer werden mit all dem völlig alleine gelassen. Mir ist kein Land der Welt bekannt, dass derartig fahrlässig teilweise noch nicht einmal angedachte Konzepte einfach so den Schulen verordnet, nach dem Motto: Friss oder stirb. So kann man ein Bildungssystem in kürzester Zeit in Schutt und Asche reformieren. Ties Rabe hat ja kürzlich in der ZEIT ein interessantes Interview gegeben mit dem Titel: „Wir werden ständig mit Ideen überflutet“. Lieber Ties Rabe: Hören Sie doch einfach nicht darauf und nehmen Sie Finnland als Beispiel. Die Finnen haben schon in den 90er Jahren die Schulinspektion komplett abgeschafft, weil sie sich als ineffektiv herausgestellt hat. In Finnland werden die Lehrer fachlich und pädagogisch gut ausgebildet, dort hat man deutlich kleinere Klassenstärken und überläßt es der Kompetenz der Lehrer, ihren Unterricht so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. Und mit den frei werdenden Stellen aus dem Qualitätsmanagement können Sie viele Lehrer mehr einstellen.

Kirschsblog: Was sagen denn die führenden Vertreter der neuen Konzepte zu Ihren Vorwürfen?

Professor Klein: Man konnte vor kurzem einen interessanten Artikel des Kollegen Heinz Elmar Tenorth, einem der führenden Vertreter der neuen Konzepte, in der FAZ lesen. Darin stellte er sich  verwundert die Frage, warum denn gerade die Kompetenzorientierung auf einen derartigen Widerstand bei den Lehrern und ihren „erziehungswissenschaftlichen Kampfgenossen“ – damit waren wir gemeint – stoße, wo doch in der „Klieme Expertise“ von 2003 ausdrücklich nicht von fachunabhängigen Kompetenzen die Rede gewesen sei. Dort habe man vielmehr betont, dass ein Kompetenzaufbau nur auf einem soliden Fachwissen möglich sei.

Kirschsblog: Und was ist die Antwort auf diese Frage?

Professor Klein: Ganz einfach. Wenn Kompetenzen so wunderbar wären, müssten wir zum Einen dieses Interview jetzt nicht führen, und die Verantwortlichen in den zuständigen Abteilungen der Behörde müssten auch nicht – gegen Ausschreibung von Beförderungsstellen – Kompetenzteams bilden, die die vielen widerspenstigen Lehrer auf Linie bringen sollen. Auf der anderen Seite muss man natürlich den Autoren der „Klieme Expertise“ vorwerfen, dass Sie es vielleicht gut gemeint haben, sich aber überhaupt nicht um die praktische Durchführung in den Schulen kümmern. Das überlassen Sie den Qualitätsinstituten in den einzelnen Bundesländern und die kochen ihr eigenes Süppchen.

Kirschsblog: Eigenes Süppchen? Die Gegenseite behauptet ja, dass ihre Maßnahmen Erfolge zeigen: So konnten in kürzester Zeit die Abiturientenquoten fast verdoppelt werden, auch die Zahl der Akademiker steigt an.

Professor Klein: Um hohe Abiturienten- und Akademikerquoten zu generieren, mit denen man seine erfolgreiche Politik in der Öffentlichkeit publik machen kann, werden aber die Ansprüche nivelliert und als Exzellenz ausgewiesen. Die vielleicht einmal positiv gedachte Kompetenzorientierung wird ins Gegenteil verwandelt – nämlich in die fachlich ungebundene, also überfachliche Kompetenzorientierung, wie sie in den Kerncurricula der einzelnen Bundesländer manifestiert sind, „es wimmelt dort nur so vor lauter Kompetenzen“ wie neulich in der FAZ zu lesen war.

Kirschsblog: Sie meinen also, die ursprüngliche Richtung der Kompetenzen, die fach- und wissensgebunden gemeint waren, hat sich verselbstständigt und ist in eine falsche Richtung gelaufen?

Professor Klein: Sie ist nicht nur in die falsche Richtung gelaufen, sie ist von denen, die sie „in der falschen Richtung“ haben wollten, ganz bewusst dorthin bewegt worden.

Kirschsblog: Das hört sich ja alles nicht besonders beruhigend an. Was wollen Sie denn dagegen unternehmen?

Professor Klein: 2010 haben wir die Gesellschaft für Bildung und Wissen gegründet, die mittlerweile mehr als 150 Bildungswissenschaftler und mehr als 300 Schulleiter, Fachleiter, Lehrer, Eltern u.a aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in ihren Reihen hat, und die diese Entwicklung äußerst kritisch betrachtet. Sie will eine Diskussion in Gang bringen, in der am Ende vielleicht ein tragfähiges Gegenkonzept mit allen Beteiligten entstehen wird, das Bildung und Wissen wieder als zentrale Komponenten einer Allgemeinbildung enthält, frei von ökonomischen Ansprüchen, die in den jetzt auf den Weg gebrachten Konzepten leider nicht mehr zu erkennen ist. In dem Artikel „Wider die Ökonomisierung der Bildung“ hat kein Geringerer als Eberhard von Kuenheim, ehemals Vorstandsvorsitzender von BMW, in der FAZ dazu eindeutig Stellung bezogen: „Die – vorgeblich durch die Zwänge der Wirtschaft erforderliche – Ökonomisierung der Bildung ist der falsche Weg. Indizien belegen, dass eben sie die Schäden verursacht, die man beklagt“ (FAZ Nr. 87 vom 13.4.2011).

Kirschsblog: Werden Sie denn überhaupt wahrgenommen?

Professor Klein: Wir werden unterstützt von nahezu allen Lehrerverbänden, vielen Elternverbänden, Reformpädagogen und vielen an tatsächlicher Bildung Interessierten im gesamten deutschsprachigen Raum (www.bildung-wissen.eu). Was mich beruhigt ist, dass alle Top-down Verordnungen im Bildungssystem in den letzten 50 Jahren letztendlich gescheitert sind, weil man die Lehrer als tragende Säulen des schulischen Bildungsgeschehens an diesen Konzepten nicht beteiligt hat. Kürzlich äußersten sich zwei Professoren aus England und den USA in der SZ zur Angloamerikanisierung des deutschen Bildungssystems unter der Überschrift „Eine deutsche „akademische Königsklasse?“. Die abschließende Beurteilung des amerikanischen Kollegen sollte einen mehr als nachdenklich stimmen: „Heute stellt sich eher die Frage, ob Wilhelm von Humboldts Idee und die von ihm erfundenen Strukturen irgendwo auf der Welt im universitären Leben nachhaltiger vergessen… sind als in Deutschland“ (SZ Nr. 153, Seite 5)  – und mit der Einführung der Bildungsstandards gilt dies auch für die Schulen in Deutschland.

Das Abi wird voraussichtlich schwerer und die Profiloberstufe muß „nachjustiert“ werden: Ties Rabe und das Zentralabitur

25 Mär

Viele Eltern und Schüler sind keineswegs begeisterte Anhänger der erst vor drei Jahren eingeführten Profiloberstufe, aber sie wünschen sich keine neuen Reformwirren an ihren Schulen: Doch genau das kommt nun auf sie zu  – mit den bundeseinheitlichen Aufgaben für das Abitur, die die Kultusministerkonferenz unter ihrem neuen Präsidenten, Schulsenator Ties Rabe beschlossen hat: Bis 2017 sollen bundesweit schrittweise für das Abitur in sieben Fächern zentrale Aufgabenpools eingeführt werden. Außerdem soll es in Hamburgs Schulen schon ab 2014 ein Zentralabitur in 18 Fächern geben. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass ein bundeseinheitliches Abitur nicht leichter wird“ erklärte dazu Ties Rabe an diesem Wochenende in einem Interview in der WELT AM SONNTAG. Zwar werde die Profiloberstufe „Bestand“ haben, so Ties Rabe weiter, allerdings nicht ganz in der Form, wie sie jetzt an vielen Schulen praktiziert wird. http://www.welt.de/print/wams/vermischtes/article13944801/Leichter-wird-das-Abitur-nicht.html

Damit werden sich viele Kritiker bestätigt fühlen, die gewarnt hatten, dass das Zentralabitur eine Gefahr für die neue Profiloberstufe sei und dass beide nicht miteinander vereinbar seien. Gerade drei Jahre alt ist die Profiloberstufe, mit der das bis dahin gültige Kursystem mit Leistungskursen in der Oberstufe abgelöst wurde, mit dem Ziel einer neuen „fächerübergreifenden und projektorientierten Arbeit in Profilen.  Das Zentralabitur stehe mit diesem fächerübergreifenden Konzept der Profiloberstufe in „absolutem Widersprich“ so die Kritiker, darunter 13  Oberstufenkoordinatoren von Stadtteilschulen.

Dem widersprach Schulsenator Ties Rabe in dem Interview in der WELT: „Von der Anlage her“ seien zentrale Prüfungen „durchaus mit der Profiloberstufe vereinbar“, so Rabe. Die zentrale Prüfungsaufgabe beziehe sich nur auf „50 Prozent des Fachunterrichts, nämlich die sogenannten Kernthemen, die ohnehin alle Schulen unterrichten müssen“ erklärte Rabe.  Verbindliche Kernthemen, die in den Lehrplänen stehen, habe es auch bisher in jedem Fach gegeben.  

Ganz anders sehen das die Kritiker. Mit dem Zentralabitur bliebe nur noch ein “Bruchteil für die Arbeit in den Profilen“, so zB. in der vergangenen Woche in der TAZ Helge Pepperling, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes Hamburg (DLV) http://www.taz.de/Oberstufen-Reform/!89881/. Die vielen Stunden für die Entwicklung und Erprobung der Profiloberstufe seien damit „Makulatur“.  http://www.welt.de/print/die_welt/hamburg/article13929917/Profiloberstufe-in-Gefahr.html „

Einige Schulen  müssten ihre Profiloberstufen „nachjustieren“, räumte Ties Rabe jetzt in dem Interview ein. Einige Schulen hätten allerdings auch „bestimmte Bildungsinhalte…sehr frei“ festgelegt und in der Anfangsphase experimentiert. „Das Missverständnis“ liege darin, dass „einige glauben, mit den Profilen könnten sie im Unterricht machen, was sie wollen“. Jetzt gehe aber darum, sich auf das „Wesentliche zu konzentrieren“. Man könne die Kernthemen in den Profilen auch weiter fächerübergreifend unterrichten, so Ties Rabe weiter,  sie müßten allerdings „im Unterricht vorkommen.

Die „meisten Schüler und Eltern“ , so ergänzte Ties Rabe, hätten bisher nicht „das Gefühl“, dass“ in allen Schulen die gleichen Maßstäbe angelegt würden. Er wisse zwar nicht, wie groß der Niveauunterschied bisher sei, das Niveau solle aber künftig in allen „Abiturfächern auf gleicher Höhe sein“, bei klaren Leistungsstandards für alle Schulen, von Stadtteilschule bis Gymnasium. Er glaube, so Ties Rabe in dem Interview, „dass man das Leistungsniveau auf diese Weise auch verbessern“ könne. Mit zentralen Aufgaben könne man vermutlich besser „qualitätssteuernd auf den Unterricht zurückwirken“ als mit Bildungsplänen, sagte Ties Rabe.

Zweifel an dieser Wirkung des Zentralabiturs hat der Düsserdorfer Bildungsforscher Rainer Bölling.  „Auch ein Zentralabitur bürgt nicht für Qualität“, hatte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung  schon vor einem Jahr erklärt  und ähnlich auch in der letzten Woche: Zwar erhofften sich „drei Viertel der Bevölkerung von einen bundeweiten Zentralabitur eine höhere Vergleichbarkeit  schulischer Abschlüsse und mehr Gerechtigkeit bei der  Vergabe von Studienplätzen“.  Doch im heutigen System der gymnasialen Oberstufe werde höchstens ein Viertel der Gesamtqualifikation durch zentrale schriftliche Prüfungen ermittelt, der größte Teil der Abinote werde dezentral ermittelt, zwei Drittel entfielen auf die Kursnoten in den Jahrgängen 11 und 12, dazu käme die dezentrale mündliche Prüfung. :“Wenn „die Abiturnoten bis auf die Stelle nach dem Komma vergleichbar sein sollen, müsste eine völlig andere Oberstufenordnung eingeführt werden, in der allein die Ergebnisse der zentralen schriftlichen Prüfungen zählen“, so Bölling.  FAZ, 15. März, S.8.

Ein solches System mit rein zentralen Prüfungen gebe es  zB. im Frankreich, mit dem französischen Abitur, dem „ Baccalaureat“  Aber „Frankreichs Zentralabitur ist kein Vorbild für Deutschland“, meint Bölling. Seine Begründung: Das französische System führe „zu einer starken Überbetonung reproduktiven Lernens und der Ausblendung all jener Anforderungen und Fähigkeiten, die sich einer standardisierten und punktuellen schriftlichen Überprüfung entziehen“.http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/campus/hochschulreife-auch-ein-zentralabitur-buergt-nicht-fuer-qualitaet-1590722.htmlDazu gehören, so Bölling, mündliche Mitarbeit, Selbsterarbeiten von Referaten, Teamfähigkeit, etc.

Außerdem seien die Bewertungen nicht immer gleich, erklärt Bölling: Korrigierenden Lehrer würden nicht selten von regionalen Schulinspektoren zu einer „wohlwollenden Bewertung gedrängt, um die Erfolgsquote zu verbessern. 2010 erwarben in Frankreich etwa zwei Drittel des Jahrganges eine Studienberechtigung. Dass sie längst nicht alle die Voraussetzungen für ein Hochschulstudium mitbringen, hat der ehemalige Präsident der traditionsreichen Sorbonne in Paris, Jean-Robert Pitte, 2007 in einer Streitschrift mit dem Titel „Stopp dem Abi-Schwindel!“ beklagt. Pitte steht mit seiner Kritik am französischen Abitur nicht allein, und es spricht wenig dafür, es als Modell zu übernehmen“ so schildert Bildungsforscher Bölling die Situation in Frankreich.

Rainer Bölling weist schließlich auf noch eine Besonderheit hin. Beim Zentralabitur gebe es eine auffällige Steigerung von guten Noten, sowohl in NRW, Bayern wie auch Berlin. Es gebe keine fundierte wissenschaftliche Untersuchung über die Ursachen, aber eine mögliche Erklärung sei, „ dass zentrale Prüfungen standardisierte Anforderungen auf mittlerem Niveau begünstigen und allgemeinen Kompetenzen wie Lesefähigkeit größeres Gewicht einräumen als fachlichem Wissen und Können“. Was auch immer die Ursachen seien, so Bildungsforscher Bölling abschließend„ man sollte sich nicht der Illusion hingeben, die Fähigkeiten junger Menschen allein aufgrund standardisierter schriftlicher Prüfungen bis auf Stellen hinter dem Komma verlässlich beurteilen zu können“.