Ein Beispiel machte deutlich, worum es geht: Ein Junge, der in anderen Schulen immer wieder durch störendes Verhalten aufgefallen war, sei schließlich an ihre Schule gekommen, erklärte eine Lehrerin einer Förderschule. Der Junge sei vermutlich hyperaktiv, so die die Erklärung aus den vorherigen Schulen! Doch das erwies sich als Fehldiagnose. Was die fachliche Diagnose tatsächlich ergab: Der Schüler hatte eine Hörverarbeitungstörung. Mit dieser Diagnose konnte ihm gezielt geholfen werden und es sei ihm danach gelungen, dem Unterricht zu folgen – ohne zu stören. Ein Beipiel, wie wichtig die fachlich-spezialisierte Arbeit von Sonderpädagogen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist. Genau hier setzte der Kritik der rund 250 versammelten Lehrern, Sonderpädagogen, Schulleiter und Eltern an, die zur öffentlichen Anhörung des Schulausschusses der Bürgerschaft am Dienstag abend in die Handelskammer gekommen waren.
„Ich fürchte, meinem Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht mehr gerecht werden zu können“, brachte es eine Lehrerin einer Stadtteilschule auf den Punkt. „Inklusion finde ich wunderbar, aber so kann es nicht gehen“, sagte ein Sozialpädagoge einer Ganztags -Stadtteilschule in einen Sozialem Brennpunkt-Stadtteil. Die Redner bei dieser Anhörung blieben meist ruhig und sachlich, doch in ihrer Kritik am Inklusionskonzept von Schulsenator Ties Rabe waren sich alle einig: Die Ressourcen, also die Fördermittel für die Inklusion reichen nicht aus , so fasste Johannes Kaustenbach, Leiter der Stadtteilschule Niendorf die Kritik zusammen.
Stein des Anstoßes ist die Drucksache 20/3641. In ihr sind die Rahmenbedingungen festgeschreiben, die Schulsenator Rabe für die „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen“ künftig vorsieht. Damit wird im Detail geregelt, wie der 2009 geänderte Paragraph 12 des Hamburgischen Schulgesetzes umgesetzt werden soll, wonach „Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischen Förderbedarf“ fortan das Recht haben, allgemeine Schulen zu besuchen und gemeinsam mit allen Schülern dieser Schulen unterrichtet und gefördert zu werden. Senatsdrucksache 20/3641 „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen“
Die Kritik richtete sich besonders gegen das sogenannte „systemische Fördermodell“. Künftig sollen demnach nicht mehr dem einzelnen Kind, sondern der Schule pauschal die sonderpädagogischen Fördermittel und Ressourcen zugerechnet werden. Errechnet werden diese Fördermittel und Ressourcen auf der Grundlage einer angenommenen Quote von fünf Prozent Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf pro Jahrgang. Als weiterer Berechnungs-Faktor kommt noch die soziale Lage (Sozialindex) der Schule hinzu, unterteilt nach den sogenannten Kess-Gebieten. Dieses systemische Fördermodell nach Quote und Kessfaktor sei „nicht transparent“ und führe zu „Ungerechtigkeiten“. „Wir machen uns Sorgen, dass die Ressourcen an den Schulen nicht reichen“, erklärte Johannes Kaustenbach, und warnte, dies könne „eine Gefahr für die Inklusion“ werden.
Die pauschale Form der Zurechnung der Ressourcen werde der Situation an ihrer Schule mit 17 Anmeldungen von Kindern mit Förderbedarf bei insgesamt 60 Anmeldungen nicht gerecht. Das rechnete auch eine Vertreterin der Geschwister Scholl Stadtteilschule vor. Das ist „mit systemischer Ressource nicht zu wuppen“.
Seit 30 Jahren gebe es in Hamburg nunmehr schon integrative Beschulung. Hamburg sei dafür weit und breit gelobt worden, erklärte Stefan Romey von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW und Mitglied im Beirat Inklusion. Doch mit dem neuen Inklusionskonzept des Schulsenators würden die Mittel zur Förderung erheblich reduziert. Im Vergleich zu den bisher bestehenden „Integrativen Regelklassen“ seien 60 bis 70 Prozent der Mittel gestrichen, im Vergleich zu den „Integrationsklassen“ seien 20 bis 40 Prozent der Ressourcen gestrichen. Was das Inklusionskonzept des Schulsentors künftig in der Praxis bedeutet, erläuterte er am Beispiel einer vierzügigen Grundschule mit zwei Vorschulklassen, die demnach künftig mit einem Sonderpädagogen und einem Sozialpädagogen nur noch für 13 Prozent des Unterichts eine Doppelbesetzung von Lehrer und Sonderpädagogen oder Sozialpädagogen haben werde. Zwar gebe es einen Sonderpädagogischen Förderplan, aber „real sollen die Allgemeinpädagogen den Prozess allein wuppen“. Die pädagogische Ausstattung der jetzigen IR Klassen mit Doppelbesetzungen sollte auch künftig bei der Inklusion die Regelausstattung sein, betonte auch ein Vater vom Elternrat der Joseph Schröder Schule.
Enno Bormfleth vom Verband Sonderpädagogik (VDS) kritisierte die vom Senat geplanten „künftigen personellen Ressourcen zur sonderpädagogischen Förderung“. Nach den Plänen von Schulsenator Rabe sollen künftig neben Sonderpädagogen auch Sozialpädagogen und Erzieher im Verhältnis 40 zu 60 Prozent die sonderpädagogische Förderung an den Regelschulen übernehmen. Dieser „Professionenmix“ mache in dieser Höhe „keinen Sinn“, erklärte Enno Bormfleet, der die Ganztagsförderschule Bindfeldweg leitet. Kritik äußerte er auch an der geplanten Unterteilung in zwei Förderungsarten. Es werde ein „geringere, gedeckelte“ Förderung für den „sonderpädgogischen Förderbedarf Lernen, Sprache, sowie soziale und emotionale Entwicklung“, LSE, geben und eine „höhere“ personenbezogene Förderung für Schüler mit dem „Förderbedarf im Bereich Sehen, Hören, Kommunikation, geistige, körperliche und motorische Entwicklung und Autismus“, dem sog. „Speziellen Förderbedarf“. Damit werde deren „Gleichwertigkeit aufgehoben“ und es werde eine Unterteilung vorgenommen in „weniger Behinderte“ und „wahre Behinderte“, kritisierte der Sonderpädagoge des VDS.
Grundlage für jede Art von sonderpädagogischer Förderung sei die „Fachlichkeit“, betonte Sonderpädagogin Christine Leites von der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e. V. Die fachspezifische Förderung überfordere Allgemeine Pädagogen. Sonderpädagogen müssten entscheiden, welche Förderbedarf vorliege, doch dafür gebe es keine Zeit. Beim einzelnen Kindern komme am Ende künftig weniger sonderpädagogische Förderung an. Hinzu komme, dass Kinder mit Sprach-, Lernbehinderung und Schweren Verhaltensstörungen aus dem „Behinderungsbegriff“ herausgenommen worden seien. Mit der neuen Bezeichnung „Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen oder Sprache oder sozial-emotionale Entwicklung“ (LSE) würden diesen Kindern jetzt einklagbare Ressourcen weggenommen, Eltern und Sonderpädagogen könnten nichts mehr einfordern, speziell auch bei Kindern mit Sprachförderungsbedarf.
Besonders skandalös sei, dass die Sprachförderung an den Sonderschulen künftig gestrichen sei, kritisierten zwei andere Sonderpädagogen später in diesem Zusammenhang, und zwar gerade dort, wo die Sprachförderung am meisten gebraucht würden. Eine Partei werde nicht christlich durch ein „C“ im Namen, eine Partei werde aber auch nicht sozial, nur weil sie ein „S“ im Namen trage, so erklärte ein Sonderpädagoge und erhielt dafür heftigen Applaus.
Der Elternratsvertreter der Joseph Schröder Schule wies schließlich noch auf die häufig unzureichende räumlich technische Ausstattung von Schulen hin. Es könne nicht angehen, dass es für Rollstuhlfahrer nur eine Toilette und ein ausreichend niedriges Waschbecken gebe, oder dass der Lichtschalter einfach zu hoch angebracht sei. Jens Fricke von der Gemeinschaft der Elternräte der Stadtteilschulen sprach den Plan von Schulsenator Rabe an, dass auch Gymnasien Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf übernehmen sollen. Die Gymnasien müssten die Hälfte der Kinder nehmen, so Jens Fricke, „ungeachtet der Schullaufempfehlung“, und „ohne Abschulungs-Gelegenheit“.
Sie mache sich Sorgen um die Kollegien vor Ort, erklärte Regina Tretow vom Gesamtpersonalrat Schule in der Schulbehörde. Seit Beginn der Inklusion steige der Krankenstand der Lehrer in Grund-, Stadtteil – und Sonderschulen. Sie forderte konsequente Doppelbesetzung im Unterricht. Doch selbst die jetzt geplanten Doppelbesetzungen seien nicht gesichert, im Krankheitsfall stehe kein Ersatz zur Verfügung, „viele Doppelbesetzungen werden ausfallen“. Wie andere Redner bei dieser Anhörung forderte sie außerdem zusätzliche Koordinationszeiten für Absprachen zwischen den beteiligten Pädagogen. Ohne Absprache werden man die „Kinder nicht fördern können, wie wir es wünschen.“
Viele Kinder seien an einer kleinteiligen Sonderschule besser aufgehoben, erklärte ein Sonderpädagoge und Vater eines Kinders mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Es gebe Schüler, die mit dem Druck einer anderen Schule nicht „klar kommen“, die keine großen Schulen ertragen, und kleine Gruppen brauchen. Die Förderschulen würden nun aufgelöst, doch er hoffe, dass Schulen für diese Kinder weiterbestehen blieben.
Was wir nicht haben, ist Zeit, so ein Sozialpädagoge der STS Mümmelmannsberg. „Es fehlt an menschlicher Zuwendung, jedes Kind möchte beachtet werden, wenn es nicht passiert, dreht unter Umständen die ganze Klasse durch“. Zwar sei vorgesehen, dass auch Sozialpädagogen künftig für die sonderpädagogische Förderung zuständig seien, doch nirgendwo stehe geschrieben, was die Sozialpädagogen künftig machen sollten, wofür sie zuständig sein sollen. „Bisher werden wir verheizt“, zum Windelwechseln dort, zur Unterrichtsvertretung da. „Inklusion finde ich wunderbar, aber so geht es nicht“ (so).
„Erstens, Inklusion ist ein gutes Ziel. Zweitens, die Ressourcen reichen nicht aus“, so das Resumee von Schulleiter Johannes Kaustenbach, mit dem er die Anhörung aber nicht beenden wollte. Sein Vorschlag: Die Abgeordneten des Schulausschusses sollten parteiübergreifend einen Appell an den Finanzausschuss der Bürgerschaft richten, „einen nennenswerten Betrag zum Gelingen der Inklusion zur Verfügung zu stellen“. Das wäre ein wichtiges Signal!